Gibt es zu viele Ärzte in Deutschland?
AOK-Chef: „Problem mit ärztlicher Überversorgung“. Nach Ansicht des Krankenkassenverbandsvorsitzenden gibt es in Deutschland keinen Ärztemangel sondern eher das Problem einer ungleichen regionalen Verteilung.
06.12.2010
Anders als der Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), der jüngst einen Ärztemangel für Deutschland prognostiziert hat, kann Herbert Reichelt, Chef der Krankenkasse AOK einen solchen Mangel nicht erkennen, sondern sieht eher ein Verteilungsproblem als Ursache möglicher Unterversorgung. „Wir haben ein Problem mit ärztlicher Überversorgung“, so die provokante These des Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes.
Wie der AOK-Chef im Gespräch mit der Tageszeitung „Die Welt“ erklärte, besteht in den Städten tendenziell eine Überversorgung mit Ärzten, während in den ländlichen Regionen teilweise tatsächlich ein entsprechender Ärztemangel zu beobachten sei. Insbesondere in Großstädten und in deren näherer Umgebung gebe es viel mehr Ärzte, als für die medizinische Versorgung notwendig seien, erläuterte Reichelt. Zum Beispiel gebe es „in Freiburg oder München (…) mehr als ein Drittel Hausärzte zu viel“, so der AOK-Chef gegenüber „Die Welt“ und der Fachmann ergänzte: „Wir haben also ein Verteilungsproblem“ und keinen generellen Ärztemangel. Der Ärztemangel auf dem Land lässt sich nach Ansicht von Herbert Reichelt jedoch nur beheben, „wenn man zugleich die Überversorgung in den Städten verringert“. In den Städten werde das Geld für die Überversorgung ausgegeben, das eigentlich zur Versorgung der Bevölkerung auf dem Land benötigt würde, erklärte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. „Solange sich Ärzte weiter in überversorgten Gebieten niederlassen können, geht kaum einer freiwillig aufs Land“, so das Fazit von Reichelt. Daher sollte nach Ansicht des AOK-Chefs dem Ärztemangel auf dem Land auch mit einer Verringerung der Praxiszulassungen in der Stadt begegnet werden. Ziel müsse sein, die Zahl der Praxen in den überversorgten Gebieten langfristig zu verringern und im Gegenzug in den Unterversorgten Gebieten Kapazitäten aufzubauen.
Die Zahlen der Kassenärztliche Bundesvereinigung, die zu dem Resultat kommen, dass bundesweit 3.600 Ärzte benötigt würden, seien sehr großzügig gerechnet, erklärte Herbert Reichelt außerdem im Interview mit „Die Welt“. Denn „so viele Ärzte bräuchte man“, laut Reichelt, „um überall in Deutschland die Grenze zur Überversorgung zu erreichen“. „Das kann nicht der Maßstab sein“ betonte der AOK-Chef weiter. Um die von Reichelt angedachte Umverteilung der vorhandenen Ärztekapazitäten zu erreichen, müssten nach Ansicht des AOK-Chefs in den Städten Arztpraxen geschlossen, d. h. die Zahl der Praxiszulassungen reduziert werden. So könnten zum Beispiel Arztpraxen, die aus Altersgründen verkauft werden solle, stattdessen geschlossen werden. Da der Praxisverkauf an Nachfolger als ein wesentlicher Baustein der Altersversorgung niedergelassener Ärzte gilt, könne er sich „vorstellen, dass Ärzte, die in überversorgten Gebieten aus Altersgründen aufhören, eine Art Abfindung für ihre Praxis bekommen“, erklärte Reichelt.
So ließe sich eine Reduzierung der Arztpraxen in den Städten bei gleichzeitiger Sicherstellung der Altersversorgung für die Betroffenen erreichen, betonte der AOK-Chef. Die Abfindung könnte dabei nach Aussage von Herbert Reichelt aus dem bestehenden Honorarvolumen finanziert werden. Auf diesem Wege würde die Zahl der Arztpraxen in den Städten reduziert und die Ansiedlung der Ärzte in ländlichen Gegenden beschleunigt,so Reichelt weiter. Allerdings seien auch andere Modelle wie der Einsatz von speziell ausgebildeten „Gemeindeschwestern“ und die stärkere Einbindung der Krankenhäuser zum Ausbau der medizinischen Versorgung in den ländlichen Gegenden nach Ansicht des AOK-Chefs denkbar. „Ganz generell muss die Planung der ärztlichen Versorgung geändert werden. Sie muss sich stärker am medizinischen Bedarf der Bevölkerung orientieren“, betonte Herbert Reichelt.
Auch zu der für das kommende Jahr von CDU, CSU und FDP geplanten Pflegereform äußerte sich Herbert Reichelt im Gespräch mit „Die Welt“. Der AOK-Chef zeigte sich gespannt in Hinblick auf die Vorschläge zur nachhaltigen Finanzierung der Pflegeversicherung, da die christlich-liberale Bundesregierung bereits angekündigt hat, Teile der Versorgung kapitalgedeckt abzusichern. Die Pflegeversicherung befinde sich zwar nicht in akuter Finanznot, „aber die Finanzreserven reichen voraussichtlich nur noch bis Frühjahr 2014“, erklärte Reichelt. Anschließend werde es zu einer moderaten Beitragssteigerung kommen müssen, so der AOK-Chef weiter. In Bezug auf die Vorschläge zu Kapitaldeckung sind seiner Ansicht nach Zweifel geboten, da die hinter uns liegende Finanzkrise die möglichen Vorteile eines kapitalgedeckten Systems durchaus in Frage gestellt habe. In Bezug auf künftige Beitragserhöhungen gab Reichelt zu verstehen: „Da die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, sind Beitragssteigerungen schon deshalb auf Dauer unausweichlich“. Während CDU / CSU und FDP im Rahmen der Pflegereform auch diskutieren wollen, ob der Arbeitgeberanteil zu den Beiträgen eingefroren werden soll, sieht Reichelt jedoch klare Vorteile im derzeitigen paritätischen Beitragsmodell. „Die Beteiligung der Arbeitgeber stärkt das System“, erklärte der AOK-Chef. (fp)
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