UN-Kommission zur Bevölkerungsentwicklung: Die Jugend ist risikanter geworden
05.06.2012
Ein bitteres Fazit zieht die 45.Sitzung der UN-Kommission zur Bevölkerungsentwicklung: Die etwa weltweit 1,8 Milliarden Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen zehn und 24 Jahren sind heute wesentlich mehr schädlichen Einflüssen wie Drogen, Alkohol, Stress und Geschlechtskrankheiten ausgesetzt, als je zuvor. Das Ergebnis steht völlig konträr zu der besseren gesundheitlichen Versorgung der Heranwachsenden in den westlichen Industrienationen. Die Gesundheitsversorgung der Kinder hat sich zwar in allen Bereichen wesentlich verbessert, dennoch sehen die Prognosen eher düster aus.
Dick machende Lebensmittel, Alkohol, Stress, Nikotin, Armut und Gewalt: Junge Menschen sind heute stärker von negativen Einflüssen betroffen, als alle Generationen zuvor. Obwohl sich die gesundheitliche Versorgung in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen enorm verbessert hat, werden organische und psychische Krankheiten massiv zunehmen. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Untersuchung der UN Kommission für Bevölkerungsentwicklung. Im April 2012 hat hierzu das wissenschaftliche Fachmagazin „The Lancet“ eine vierteilige Artikelserie mit dem Titel „Die Jugendlichen von heute“ publiziert, die sich mit der zukünftigen Gesundheit der heute noch jungen Menschen widmet. Wenn die Erwachsenenwelt die Probleme der jungen Menschen nicht ernst nimmt, kann eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung nicht funktionieren, so die Warnung der Experten.
Jugendliche haben in der Forschung einen geringeren Stellwert
Der Sprecher von Unicef Deutschland, Rudi Tarneden erläuterte, warum Jugendgeneration bislang in Forschung und Medizin eine geringeren Stellwert hatten. "In den vergangenen Jahren ging es um die absoluten Basics wie Trinkwasser, Impfschutz und Schulbildung. Durch solche vergleichsweise einfachen Maßnahmen sank die Kindersterblichkeit seit 1990 um 35 Prozent." Allerdings seien die Probleme der Heranwachsenden weniger einfach zu begegnen, als die der Kinder. Das gilt für Deutschland aber auch der Dritten Welt. Ein Leben voller Risiken zuführen und die eigene Gesundheit zu schädigen, sei ein Folge von Armut, Ausgrenzung und mangelnder aufklärerischer Arbeit. „Solche Probleme lassen sich nicht einfach weg impfen“, so Tarneden.
Geschlechtskrankheiten weiter auf dem Vormarsch
Einer hoher Bedarf an Aufklärung besteht nach Meinung des UNICEF-Vertreters vor allem im Bereich Sexualität. Die Immunschwächekrankheit Aids ist durch die ungebrochene Verbreitung des HI-Virus in zahlreichen Ländern noch immer auf dem Vormarsch. Daneben werden nicht weniger gefährliche Geschlechtskrankheiten übertragen, mit unabsehbaren Folgen für die Betroffenen. Im Gegensatz zu Aids seien aber unter den jungen Menschen andere Geschlechtskrankheiten weniger bekannt. Denn neben der Verbreitung von HIV infizieren sich immer mehr Heranwachsende mit Viren der Gattungen Gonokokken, Treponemen und Chlamydien. Erstere verursacht die Krankheit „Tripper“ und zweite „Syphilis“. In vielen Schulen ist Aids im Lehrplan mittlerweile ein Begriff, über genannte andere Krankheiten wird aber kaum unterrichtet. Das Thema Sex findet im Unterricht noch immer nur einen nachrangigen Platz. Und das, obwohl Sex durch das Internet zu einer leicht zugänglichen Ware geworden ist.
Kaum noch gefilterte Informationen für Kinder durch das Internet
„Junge Menschen wachsen heute ganz selbstverständlich mit dem Internet auf“, berichtet Sozialpädagogin Gritli Bertram. Das Fatale ist aber, dass die Informationsflut nicht mehr gefiltert wird. Viele Kinder wissen heute schneller als ihre Eltern, wo und was auf welchen Internetseiten zu finden ist. Haben sich Jugendliche von damals noch bei „Doktor Sommer“ in der Bravo über Sexualität und erste Probleme in der Pubertät informiert, „sind heute durch das Internet alle Tabus gefallen“, so die Pädagogin. Mit ein paar Klicks können sie kinderleicht alles finden, „ob pornografische Websites oder Gewaltszenen, alles ist ungefiltert vorhanden“. Unter Wissenschaftlern ist seit längerem eine Diskussion darüber entbrannt, inwieweit das Internet das Sexualverhalten der jungen Menschen beeinflusst. „Viele Kids meinen, der Sex im Internet sei eine Darstellung der realen Welt und ahmen es vor allem zum Leidwesen der Mädchen nach“, so Bertram. Aber genaue wissenschaftliche Untersuchungen hierüber können erst in ein paar Jahren angestellt werden. Alles deutet aber daraufhin, dass sich mindestens Moralvorstellungen nachhaltig verändern. Mit welchen Folgen das behaftet ist, ist jetzt noch nicht absehbar.
Dauerbeschallung der Konzerne
Eine Folge der medialen Dauerbeschallung kann aber schon jetzt beobachtet werden. Durch das Internet erreichen Konzerne Jugendliche auf der ganzen Welt, rund um die Uhr. Die Industrie konnte durch die Massenmedien ihren Umsatz in den letzten Jahren massiv steigern. Das gilt vor allem für die Tabakhersteller, wie Prof. Dr. Kurt Ullrich von der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Hamburg berichtet. Obwohl das Rauchen in den reichen Ländern kontinuierlich abnimmt, „steigt der Absatz von Zigaretten“ berichtet der Mediziner. "Das kann nur bedeuten, dass der Markt in Zweit- und Dritte-Welt-Ländern wächst."
Die Zigarettenhersteller haben ihr Marketingkonzept von damals über Bord geworfen, um junge Menschen trotz erfolgreicher Anti-Rauch-Kampagnen effektiver zu erreichen. Statt dem einsamen Cowboy auf dem Pferd, sollen nicht nur „harte Männer“ durch gezielte Werbekampagne angesprochen werden, sondern zunehmend junge Frauen. Auf Plakaten sind junge, attraktive Frauen zu sehen, die dem Betrachter "Maybe will never be her own boss." (Kein Vielleicht, sondern ein klares "Ja") hinterher rufen. Die Werbung verfehlt offensichtlich ihre Wirkung nicht . Laut neuster Statistiken rauchen immer mehr Frauen, obwohl insgesamt immer weniger Menschen in den Industriestaaten zum Glimmstängel greifen. Daraus folgend steigt auch die Todesrate Tabak-bedingter Krebsfälle, wie das Bundesinstitut für Statistiken erst kürzlich bekannt gab.
Übergewicht in der ganzen Welt ein steigendes Problem
Auch die Nahrungsmittelindustrie erfindet immer mehr designete Lebensmittel, die zum ungezügelten Konsum verleiten. Auch hier sind junge Menschen im Fokus der Konzerne. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass immer mehr Menschen in bereits jungen Jahren an regelrechter Fettleibigkeit (Adipositas) leiden. Zwar reagieren mittlerweile die Gesundheitspolitiker und starten zahlreiche Kampagnen, um dem Übergewicht bei Mädchen und Jungen zu begegnen. Doch der Trend lässt sich kaum aufhalten, mahnt auch Ulrich. Die meisten Ernährungsprogramme sind nicht sehr effektiv, so der Kinderarzt. Mit Empfehlungen zur gesunden Ernährung sei den meisten Kindern nicht geholfen, vor allem dann nicht, wenn der ungesunde Lebensstil im elterlichen Haushalt fortgeführt und sozialisiert wird. Daher seien Programme, die langfristig auch das Elternhaus miteinbeziehen, grundsätzlich sinnvoller und zeigten die besten Langzeiterfolge. Einen einfachen aber wirksamen Tipp gibt der Experte: „Einfach weniger fernsehen“. Die Reduzierung des Fernsehkonsums führe auf Dauer zu einem „ähnlichen Gewichtsverlust wie eine strenge Diät."
Zu viel fettes Essen, kaum Bewegung und hoher Medienkonsum, die Probleme schwappen längst von den Wohlstandländern auf ehemals arme Staaten über. "In Schwellenländern gibt es mittlerweile beides: Probleme der Ersten und der Dritten Welt." In Ländern wie Südafrika, China oder Indien leben Arm und Reich nebeneinander. Die einen leiden an akutem Untergewicht und die anderen an Fettleibigkeit. Das Problem sei in den sogenannten „Schwellenländern“ noch kaum erfasst. Daher gebe es kaum Programme zur gesunden Ernährung und nur sehr wenige soziale Auffangnetze, um beispielsweise depressive Episoden zu lindern.
Heranwachsende leiden immer mehr an psychischen Krankheiten
Laut UNICEF sind die psychischen Probleme unter Kinder und Jugendlichen stark gestiegen. Laut der Experten leiden rund 20 Prozent der jungen Menschen an Depressionen oder depressiven Phasen während der Pubertät. Leistungsdruck, stetig steigende Ansprüche seitens der Schule und Elternhaus, Stress aber auch Armut und Gewalt lassen immer mehr Kinder in eine regelrechte Traurigkeit verfallen. Während in der ersten Welt zahlreiche therapeutische Angebote bestehen, sind die Kinder in der dritten Welt der Erkrankung hilflos ausgeliefert. Daher sind sie besonders der Gefahr ausgesetzt, eine manifestierte Depression zu erleiden. Ein Blick auf die Statistik verrät, dass die Selbstmordraten in den osteuropäischen Ländern am höchsten sind. Das traurige Suizid-Ranking führen Staaten wie Russland, Litauen, Lettland oder Kasachstan.
„Nicht jede Depression, die nicht therapeutisch behandelt wird, mündet automatisch in einen Suizid“, berichtet die Pädagogin. Aber die Betroffenen flüchten sich vielmals in ihrer Verzweiflung in Süchte, konsumieren regelmäßig Drogen wie Alkohol, Cannabis oder Zigaretten. „Die traumatischen Erlebnisse durch Gewalterlebnisse begleiten Kinder oft ein Leben lang“. Dass aus den schon in der Kindheit psychisch kranken Kindern einmal gesunde und lebensfrohe Erwachsene werden, ist vielfach unwahrscheinlich. Ganz zu schweigen davon, dass die zum Teil schwer kranken Kinder einen „vollwertigen Beitrag zur Gesellschaft später leisten können“. Schon jetzt ist aber erkennbar, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise weiter zunehmen wird, Umweltbelastungen und Klimawandel ihr Unwesen treiben und die Menschheit vor massiven Problemen steht. Tarneden fordert angesichts der Zahlen mehr Zuwendung für die Heranwachsenden dieser Welt, denn heute wächst die größte Jugendgeneration aller Zeiten heran. Werden sie mit ihren Problemen allein gelassen, „wird eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft immer wieder unterlaufen werden." (sb)
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