Faszien: Neue Wege an der Universität Ulm: Vom 21 bis 26 März 2010 fand an der Universität Ulm zum ersten Mal weltweit ein interdisziplinärer Fascia Research Course statt.
Vom 21 bis 26 März 2010 fand an der Universität Ulm zum ersten Mal weltweit ein interdisziplinärer “Fascia Research Course” statt. An sechs Tagen hatten Kliniker und Forscher aus den verschiedensten Disziplinen Gelegenheit bei Operationen, Dissektionen an Tieren und Menschen, Vorträgen und Workshops die Vielfältigkeit der Faszien zu erfahren. Verständlich, dass ein paar Tage nach Ankündigung im Jahre 2009 der Kurs schon komplett ausgebucht war. Die Teilnehmer und Dozenten kamen aus den USA, Taiwan, Neuseeland, Kanada, Brasilien, Italien, Norwegen, Dänemark, u.a., und tauschten sich unter der Woche auch untereinander aus- was mit zum erklärten Konzept des Kurses gehörte. Organisiert hatte das Ganze maßgeblich das sogenannte “Fascia Research Project”, das als Gemeinschaftsprojekt der Abteilung für Anästhesie und des Institutes für Physiologie besteht und zu dem unter anderem Dr. Robert Schleip, Dr. Werner Klingler und Dr. Adjo Zorn gehören. Neuartige Ideen und Forschungen waren es, die das Bild der Veranstaltung prägten. Viele Therapeuten nahmen grundsätzlich neue Ansätze für die klinische Tätigkeit mit.
Neuartige Anatomie
War es bisher das Trennende und Vereinzelnde, was bisher vorwiegend den Ansatz der anatomischen Darstellung ausmachte, so wurden hier in Ulm neue Wege präsentiert. Der klinische Anatom Dr. Andry Vleeming, von der Rotterdamer Erasmus Universität, der Rolfer und Entwickler des eigenen diagnostischen und therapeutischen Modells der Anatomy Trains, Tomas Myers und die anatomische Forscherin und Therapeutin Carla Stecco, von der Universität Padua, stellte eher das Verbindende in den Mittelpunkt ihrer anatomischen Ausführungen. Myers konnte eindrucksvoll darlegen, wie zwei Muskeln (M. Serratus anterior und Mm. Rhomboideii), die nach bisherigen Kenntnissen am Schulterblatt ansetzen, nach Wegnahme des Schulterblattes immernoch stark aneinander hafteten. Vleeming stellten am Anatomischen Institut der Universität Ulm am Präparat live dar, wie eine seitliche Sehne des Oberschenkels (Tensor fasciae lata) in die Kniekapsel übergeht. Carla Stecco belegte in ihren Studien, dass die äussere Schicht von Gefässen (Adventitia) eine Kontinuität mit der oberflächlichen Faszienschicht aufweist.
Tensegrity und Faszien
Noch eindrucksvoller wurden diese Verhältnisse durch die Videos des französischen Handchirurgen Dr. Claude Guimberteau. Er ist mit einem Endoskop in die Faszienschichten von Lebenden eingedrungen und hat spektakuläre Bilder und Filme gemacht. In Ulm präsentierte er einen gerade fertig gewordenen sechsminütigen Ausschnitt seines neuesten Werkes. Er wies auf die Allgegenwärtigkeit des Wassers in den Bindegewebsstrukturen hin. Seine Aufnahmen erinnern an die sogenannte „Tensegrity“- Struktur des us- amerikanischen Erfinders, Architekten, Designer und Philosophen Richard Buckminster Fuller. Er zählt zu den sogenannten „biomorphen“ Architekten. Biomorph bedeutet, „von den Kräften des natürlichen Lebens geformt“. Ein bekannterer Vertreter dieses Ansatzes ist der spanische Architekt Santiago Calatrava, der schon vor Jahrzehnten seine Diplomarbeit über die Struktur eines Hühnerknochens verfasste. Die Physikerin und Bewegungsforscherin Daniéle-Claude Martin PhD vermittelte den Teilnehmern die Übertragung des Modells auf den menschlichen Organismus, bzw. seine Strukturen, indem die Teilnehmer Modelle zusammen bauen mussten. In den Teilnehmervorträgen stellte der englische Osteopath Graham Scarr noch sein Tensegrity- Modell am menschlichen Schädel vor und mögliche Konsequenzen bei Pathologien vor.
Modelle aus dem Fascia Research Project
Auch die Forscher des Faszienlabors in Ulm präsentierten einige ihrer Arbeiten. So stellte Dr. Adjo Zorn ein neuartiges Gangmodell (Gait Analysis) unter Berücksichtigung des starken Bindegewebes des Rückens vor (Fascia thoracolumbalis). Er unterlegte seine Ausführungen mit Videos eines Hundes, der ohne Vorderbeine geboren und aufrecht laufen gelernt hatte und Videos von sogenannten “Swingwalkern” aus Afrika. Zorn vertrat die Ansicht, dass unser Körper nicht, wie bisher behauptet, Energie durch die Auf- und- Ab- Bewegung und das Balancieren verbraucht. Sondern im Gegenteil, dass sich die elastische Bewegung eher energieeffizient auf unseren Organismus auswirkt, bzw. sich dieser die Bewegung so zu eigen gemacht hat.
Dr. Werner Klingler stellte in seinem Vortrag die Auswirkungen von Wärme auf die Faszien vor und Dr. Robert Schleip verband in seinem Vortrag die Faszienarbeit und –forschung mit der Anthropologie. Interessant hierbei, dass im Körpertraining der Weg hin zu den Faszien führt. Die Übertragung durch die Faszien bei Aktivitäten wie Laufen und Schwimmen ist dort keine Neuigkeit mehr. Das muskelorientierte Training weicht immer mehr dem auf Faszien und dem Modell der “Long Chains” ausgerichteten Training. Magazine wie “Men´s Health” haben diese Ideen aufgegriffen und beginnen diese umzusetzen und der Leserschaft nahezubringen. Eigentlich sind dies gymnastische Übungen aus der Generation unserer Großeltern, die so wieder Einzug in moderne Trainingssysteme erhalten.
Homöokinesie statt Homöostasis
In dieser Vielfalt der Ideen, Konzepte und Forschungen in den sechs Tagen in Ulm kamen immer wieder zwei entscheidende Punkte zur Sprache:
1. Mechanische Aspekte der Biochemie und
2. Das Verbindende und Erkennen von Zusammenhängen im menschlichen Organismus sind lange vernachlässigt worden.
So wurde letztendlich das gängige Denk- Modell der Homöostase (Selbstregulation) dem neuen Konzept der Homöokinesis (Erreichen des Gleichgewichts in Körperfunktionen durch dynamische Prozesse) gegenübergestellt. Denn das bisherige Konzept der Homöostase wird bei einer Selbstregulation des Organismus sofort durch eine Rotation der Erde wieder durcheinandergebracht. Das insgesamt neuartige Konzept dieses Kurses verspricht Bewegung und Verbindung innerhalb der therapeutischen Community und den Klinikern und Forschern zu bringen- genauso wie die Faszien unseren Organismus verbinden. (Thorsten Fischer, Heilpraktiker Osteopathie, 05.04.2010)
Weiterführende Informationen:
Terra autonomica – The world of self-organized creatures
Biotensegrity von Stephen M. Levin, M.D.
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.