Buchrezension: “Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten” von Gill Paul
Gill Paul skizziert die Geschichte der Medizin von der Steinzeit bis in die Gegenwart. Ein derart großer Rahmen lässt sich am besten exemplarisch fassen, und so arbeitet der Autor 50 Objekte heraus, an denen sich die Entwicklungen der Heilkunst nachvollziehen lassen. Dabei zeigt die Geschichte der Medizin zugleich die Geschichte der menschlichen Kulturen und die Veränderungen im Denken, bedingt durch veränderte Produktionsverhältnisse, wissenschaftliche Erkenntnisse und aus neuen Bedingungen entstandene Werte und Normen.
Inhaltsverzeichnis
Die Kapitel im Überblick
So beginnt das Werk mit der archaischen Zeit, als unsere Vorfahren in einer magischen Welt lebten und Krankheiten das Wirken böser Geister demonstrierten. Dann geht es zu antiken Ägyptern, den islamischen Gelehrten, der weit entwickelten Medizin in Persien, China und Indien. In 50 Kapiteln stellt Paul jeweils eine medizinische Errungenschaft vor, in zeitlicher Reihenfolge von den Trepanationen der Steinzeit zum persischen Arzt Avicenna im 11. Jahrhundert, Harveys Darstellung des Blutkreislaufs, Florence Nightingales Lampe, den Mundschutz bei Grippe, der ersten Herztransplantation bis zur Schutzkleidung bei Ebola.
Fortschritt und Stagnation
Diese Kulturgeschichte bestand keineswegs nur aus Fortschritten. Falsche Vorstellungen wurden zu Dogmen und behinderten über Jahrhunderte die Weiterentwicklung, obwohl Erfahrungswissen ihnen entgegen stand: Die Galensche Viersäftelehre ist ein Beispiel, wie eine fehlgeleitete Vermutung medizinische Fortschritte verhinderte.
Zudem waren die meisten Therapien bis in die Neuzeit bestenfalls wirklunsglos; für die Patienten bedeutete das oft sinnlose Qualen und führten manchmal sogar zu einem „qualvollen Tod“. Dennoch zeigt die Geschichte der 50 Objekte beispielhaft, dass in allen Kulturen und allen Zeiten Ärzte alles ihnen mögliche taten, um das Leben lebenswerter zu gestalten.
Trepanierte Schädel
Fast jeder fünfte Schädelfund aus der Jungsteinzeit weist Bohrlöcher auf. Diese trepanierten Schädel fanden sich in der Südsee wie in Nordafrika, in Europa, Asien und Neuseeland. Es handelt sich um das älteste bekannte chirurgische Verfahren. Unklar ist, welchem Zweck diese Operationen dienten.
In manchen Fällen zeigten sich eindeutig vorhergehende Schädelverletzungen, so dass die Bohrungen vermutlich dazu dienten, Knochensplitter zu entfernen. Wissenschaftler vermuten, dass die Schädelöffnungen auch dazu dienten, Kopfschmerzen, Epilepsie und psychische Störungen zu heilen.
Dem archaischen Denken zufolge rührten die von bösen Geistern her, die sich im Körper eingenistet hatten und durch die Löcher ins Freie gelangen konnten. Die heraus gelösten Knochenstücke dienten vermutlich als Talismane.
Bisweilen wurden die Löcher mit Muschelschalen, später Metallplättchen aus Gold oder Silber verschlossen. Bereits 4000 v. Chr setzten die Ärzte Bogenbohrer ein, um die Löcher zu bohren.
Die Risiken waren immens: Blutungen, Blutgerinnsel und Schock ebenso wie Gehirnschwellung, vor allem aber Infektionen. Die Kenntnis der frühen Ärzte verblüfft indessen. Immerhin zwei Drittel der Schädel zeigen verheilte Wunden, was zumindest bedeutet, dass diese Patienten überlebten. Höchstwahrscheinlich achteten die Chirurgen darauf, das Gehirn nicht zu verletzen.
Diese Schädelöffnungen hielten sich bis in die Neuzeit und entwickelten sich auch unabhängig voneinander. So hatten die Maya und Azteken, die sehr häufig Trepanationen vornahmen keinen Kontakt zu den Chinesen, die diese Operationen ebenfalls durchführten, und diese wiederum keine Verbindung zu den europäischen Ärzten des Mittelalters.
Im Mittelalter glaubte man, schädliche Dämpfe im Körper ließen Krankheiten entstehen, und die Schädelöffnung entließ diese Ausdünstungen in die Außenwelt. So galten Trepanationen auch als ein Mittel gegen Wahnsinn, und in der frühen Neuzeit galten sie als Mittel gegen Epilepsie.
Aberglaube?
So merkwürdig es sich anhört, durch das Öffnen des Schädels böse Geister oder schädliche Dämpfe entweichen zu lassen, so sinnvoll ist Trepanation in bestimmten Fällen, und Ärzte wenden sie noch heute an.
Trepanationen können erhöhten Schädeldruck lindern, der bei Hirnblutungen entsteht und ebenso Kopfschmerzen, die nach einer Kopfverletzungen auftreten.
Der Papyrus des Edwin Smith
Zu den bedeutendsten medizinhistorischen Entdeckungen gehört der Papyrus des Edwin Smith. Smith war ein britischer Archäologe, der 1862 zufällig bei einem Händler in Luxor auf eine antike Schriftrolle stieß.
Dieser Papyrus war mehr als vier Meter lang, und als die Hieroglyphen entschlüsselt werden konnten, zeigte sich, dass es sich um ein medizinisches Handbuch für fast 50 Krankheiten handelte. Die Methoden gingen teilweise auf die Zeit um 3000 v.u.Z zurück; es handelt sich also um den ältesten bekannten medizinischen Text.
Die Niederschrift belegte, dass die Ägypter vor 5000 Jahren ein Wissen über Krankheiten hatten, welches das des europäischen Mittelalters weit überstieg: So enthält die Schrift detaillierte Beschreibungen des menschlichen Gehirns und sie wussten, dass das Blut sich bewegte – mit dem Herz als Zentrum in der Mitte.
Harnstoff gegen Falten
Eine Salbe gegen Falten enthielt Harnstoff, der auch heute noch in Mitteln gegen Falten Verwendung findet; dem Verfasser war bekannt, dass Schäden an bestimmten Körperregionen Inkontinenz, Lähmungen und Krämpfe auslösen. Dabei ist der Papyrus streng wissenschaftlich und enthält kaum Hinweise auf Magie. Die Methode entspricht der heutigen Wissenschaft: Der Autor schloss aus Beobachtungen und zog aus diesen logische Schlüsse.
Es ist also kein Zufall, dass die ägyptische Heilkunst in der Antike einen so hohen Ruf genoss, dass es in Griechenland und später Rom als besondere Auszeichnung galt, wenn ein Arzt seine Ausbildung in Ägypten genossen hatte.
Die Bibliothek von Ninive
Neben Ägypten war Mesopotamien ein Zentrum der Medizin der antiken Welt, unter der wechselnden Oberherrschaft von Babylon, Assyrien und später dem Persischen Weltreich. 600 Keilschriften aus der Zeit von Assurbanipal von Assyrien zeigten ein rationales Verständnis von Heilkunde, das über Jahrhunderte hinweg als Wegweiser diente.
Die Mesopotamier trennten zwischen ashipu, Heilern, die auch Zaubersprüche und Beschwörungen einsetzten und deren Rituale an heutige Heilpraktikern erinnerten und den Ärzten, asu, die pflanzliche Heilmittel einsetzten und als Chirurgen arbeiteten.
Die Menschen des Landes zwischen Euphrat und Tigris glaubten zwar, dass Götter das Geschehen der Welt lenkten und Geister allgegenwärtig waren, kannten aber eine Medizin, die auf rationalen Erkenntnissen basierte.
Die pflanzlichen Heilmittel, die sie nutzten, werden zum Teil auch heute eingesetzt, weil sie antiseptisch wirken – so nutzten sie Seifen aus Harz und tierischen Fetten, die bakterielle Infektionen in Schach hielt. Die Tontafeln im Besitz von Assurbanipal sind geordnet in Abschnitte zum Beispiel zur Gynäkologie und Kinderheilkunde.
Das Ayurveda
Die Atharvaveda aus den vedischen Schriften kennzeichnet die indische Heilkunde. Der ayurvedische Glauben sah ein Gleichgewicht zwischen Luft, Feuer, Wasser und Boden als entscheidend für die Gesundheit des Menschen, wobei sie bei jedem Menschen von Geburt an in einem einzigartigen Verhältnis standen.
In der ayurvedischen Literatur war gesunde Ernährung und Medizin nicht voneinander zu trennen. Die Behandlungen von Krankheiten orientierten sich daran, welchem Element-Typ ein Leiden entsprach. Zu den Therapien gehörten Panchakarma (Reinigung), Shamana (Entspannung) und Bhrimana (Ernährung).
Grauer Star und Blasensteine
Darüber hinaus waren die Ärzte des antiken Indiens auch in der Chirurgie versiert und nutzten über 100 Instrumente, zum Beispiel, um den Grauen Star zu entfernen, Blasensteine zu entnehmen und Wunden zu kauterisieren. Ihre Kenntnis der Anatomie war indessen aus dem gleichen Grund eingeschränkt wie die der Ärzte des christlichen Mittelalters: Sie durften keine Leichen sezieren.
Die Lehren des Huangdi
Der mythische Gelbe Kaiser des dritten Jahrtausends v.u.Z bot im alten China eine Vorlage für ein fiktives Frage-Antwort-Lehrbuch zwischen Huangdi und seinen Ministern, das im 1. Jahrtausend v.u.Z erschien. Im ersten Teil geht es um Diagnosen, im zweiten Teil um Akupunktur.
Dieses Huangdi Neijing vertrat die These, dass sowohl innere wie äußere Einflüss Krankheiten verursachen können. Die äußeren Ursachen waren demnach Wind, Kälte, Wärme, Feuchtigkeit und Sommerhitze, die inneren Freude, Ärger, Grübeln, Kummer, Furcht und plötzlicher Schrecken. Diese Faktoren führten alle zu spezifischen Symptomen, Hitze zum Beispiel zu Benommenheit und Brechreiz.
Yin und Yang
Ziel einer Behandlung war es, im Körper ein Gleichgewicht zwischen den konträren Kräften Yin und Yang ebenso herzustellen wie zwischen den Elementen Erde, Wasser, Feuer, Holz und Metall, die wiederum in Beziehung zu den menschlichen Organen standen, ebenso zu den Farben, den Klimatypen, den Sinnen und Geschmacksrichtungen.
Das Huangdi Neijing beschrieb sechs verschiedene Pulse, und ein elementarer Teil der ärztlichen Diagnose bestand darin, diese zu ertasten.
Im Huangdi Neijing sind die 12 Hauptmeridiane festgelegt, Kraftlinien, durch die die Substanz Chi im Körper fließt. Diese Linien stehen mit Organen und Körperfunktionen in Verbindung, und hier liegen die 365 Akupunkturpunkte. Der Arzt stimuliert den Fluss des Chi, indem er an Punkten auf den Meridianen feine Nadeln sticht.
Übertragungsschmerz
Zwar gibt es diese Meridiane anatomisch nicht, dennoch ist Akupunktur zur Linderung bestimmter Krankheiten und zur Unterstützung der Behandlung mit der traditionellen chinesischen Medizin geeignet.
Es gibt Leitungsbahnen der Nerven für Übertragungsschmerzen, also für Schmerzen, die an anderen Stellen des Körpers auftreten als die Verletzung selbst. Auch in China war Sezieren verboten, und die altchinesischen Ärzte kamen aufgrund äußerer Beobachtungen zu grundsätzlich richtigen Ergebnissen.
Galens Phlebotom
Galen lebte von 150-210 n.u.Z, studierte Medizin unter anderem in Pergamon und Alexandria. Um seine Bedeutung für die Medizin zu dokumentieren, stellt Paul sein so genanntes Phlebotom vor, eine Lanzette, um die Venen der Patienten beim Aderlass zu öffnen.
Galen zeigte, dass das Gehirn über die Nerven die Muskeln kontrolliert und nicht das Herz, wie Hippokrates gedacht hatte. Er führte dies auf grausige Weise vor, indem er einem lebenden Schwein die Nerven zerschnitt, worauf das Schwein vor Schmerzen schrie und erst aufhörte, als er den Nerv zum Kehlkopf zertrennte.
Galen stellte auch fest, dass in den Arterien helles, in den Venen dunkles Blut floss. Er hielt das venöse Blut für ein Produkt der Leber, das arterielle für ein Produkt des Herzens.
Er hielt an der Viersäftelehre fest und ergänze die um eine Temperamentenlehre, in denen jeder Saft mit einer typischen Persönlichkeit verknüpft war: Schwarze Galle führte demnach zu Melancholie, gelbe Galle entsprach Cholerikern und Schleim kennzeichnete Phlegmatiker.
Galen fand heraus, dass die Nieren Urin produzierten, und nicht die Blase.
Inflationärer Aderlass
Seine wichtigste Methode war der Aderlass, den er allen anderen Therapien vorzog und ihn bei unzähligen Erkrankungen verschrieb. Diese reichten von Epilepsie bis zu Lungenentzündung. Dabei war für ihn Aderlass nicht gleich Aderlass: So sollte bei Lebererkrankungen eine der rechten Hand, bei Milzbeschwerden eine der linken Hand geöffnet werden, eine am rechten Ellenbogen bei Blutungen aus dem rechten Nasenloch.
Galens Lehre blieb bis weit in die Neuzeit erhalten. Neben richtigen Entdeckungen wie der Verbindung der Nerven zum Gehirn war seine Temperamentlehre leider falsch, ebenso der inflationäre Gebrauch des Aderlasses.
Die Rabenmaske
Heute kennen wir die Rabenmaske vor allem aus dem Karneval in Venedig. Sie stammt aus den Zeiten der Pestepidemien und kennzeichnete die Pestärzte. 1346 starben mehr als 50 % der Bevölkerung Europas in sieben Jahren an der Pest. Viele Ärzte weigerten sich, Pestkranke zu behandeln, vermutlich, weil sie ahnten, dass die Krankheit ansteckte. Die Mediziner, die den Leidenden doch halfen, versuchten sich zu schützen, indem sie eine Rabenmaske aufsetzten.
Die Byzantinische Pest
Bei einer frühen Pestepidemien von 541-543 n.u.Z brach die Pest in Konstantinopel aus, nachdem sie von China über die Seidenstraßen und den Seeweg nach Nordafrika gelangt war. Das Byzantinische Reich bezog Getreide vor allem aus Ägypten, und die Bottiche, in denen dieses aufbewahrt wurde, waren ein Rattenparadies.
Im heutigen Istanbul starben täglich 5000 Menschen, die Seuche breitete sich in Arabien und Europa aus. Manche Historiker sehen diese Seuchenwelle als Auslöser für den Niedergang des Römischen Reiches an. Allerdings hielt sich dies im Osten stark geschrumpft noch bis 1453, und im Westen war es bereits im fünften Jahrhundert durch die Völkerwanderung zerstört.
Der Todesvogel
Der Rabe war symbolisch der Vogel des Todes, doch die Maske erfüllte einen praktischen Sinn: Den Schnabel füllten die Ärzte mit Kräutern, von denen sie vergeblich hofften, dass sie vor der Seuche schützten.
Beulen- und Lungenpest
Die Erkrankten litten unter geschwollenen Lymphknoten, Schwellungen in den Achseln und an den Leisten. Aus diesen „Beulen“ quoll Eiter und Blut. Dann fieberten die Opfer stark und erbrachen Blut, es folgten schwarze und rote Flecken auf der Haut. 80 % der Erkrankten starben.
Einige Betroffene bekamen Atembeschwerden und husteten Blut. Bei ihnen war die Lunge infiziert. Die Ansteckung verlief über Niesen. Zumindest gegen die Lungenpest konnte die Arztmaske also helfen. Bei der Lungenpest starben bis zu 95 % der Patienten, bei einer Pestsepis nahezu 100 %.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde klar, dass Yersinia pestis die Pest verursacht, und sich überträgt, indem befallene Flöhe an ihren Wirten saugen. Dies sind meist Nagetiere, und diese tragen die Seuche weiter. In Europa handelte es sich vor allem um Wanderratten. Die Flöhe hüpften von Ratten auf Menschen, und die Menschen infizierten sich durch Flohbisse. Auch eine Übertragung von Mensch zu Mensch war möglich.
Jagd auf Sündenböcke
Im Mittelalter war die Ursache unbekannt, die hilflosen Versuche, der Seuche Herr zu werden, führten dazu, dass die Menschen den Respekt vor Ärzten verloren und Sündenböcke suchten. Sie beschuldigten die Juden, die Brunnen vergiftet zu haben und verbrannten die Unschuldigen bei lebendigem Leib. Von teuflischen Verschwörungen war die Rede, Roma und Leprakranke mussten ebenso um ihr Leben fürchten wie Fremde, die sich in einer Stadt aufhielten. Allein in Straßburg schlachtete der Mob 1349 2000 Juden.
Pestärzte
Zwar war der Übertragungsweg unbekannt, die Ärzte versuchten aber völlig zu Recht, jeden Hautkontakt mit den Kranken zu vermeiden. 1619 entwickelte Charles de Lorme einen Pestanzug mit gewachstem Übermantel, Handschuhen sowie einer Vogelmaske mit Schnabel, der Gewürze und Kräuter enthielt, um die verseuchte Luft zu filtern: Amber, Zitronenmelisse, Kampfer, Minze und Gewürznelken. Die Ärzte untersuchten die Patienten mit einem Stock statt sie zu berühren.
Auch Ärzte erkrankten, aber selbst wenn die Ansteckung über die Flöhe unbekannt war, half das Vermeiden des Hautkontaktes sicherlich. Doch es reichte, dass die Flöhe auf den Pestanzug sprangen. Wenn der Arzt diesen dann auszog und sie auf seine Haut gelangten, infizierte er sich ebenfalls.
Die Schauspieler der Commedia dell‘Arte übernahmen den Pestanzug, und so ging er in den venezianischen Karneval ein.
Das Rote Kreuz
Das Kapitel über das Rote Kreuz führt in die Kriegsmedizin ein. 1859 beschloss der Schweizer Henry Dunant, zu handeln. Er kam bei Solferino in Italien an einem Schlachtfeld vorbei, auf dem 40 000 Männer verwundet zwischen Toten lagen, und viele von ihnen selbst starben.
Dunant entwarf eine neutrale Hilfsorganisation für Kriegsverwundete, die durch eine Armbinde mit einem roten Kreuz erkennbar sein sollte. 1914 gab es bereits 45 nationale Rote Kreuz Organisationen. Nach dem Ersten Weltkrieg dehnte das Internationale Rote Kreuz seine Tätigkeit auf Natur- und menschengemachte Katastrophen wie Hungersnöte aus.
Bereits von den antiken Römern sind gut ausgebildete Mediziner für Kriegsverletzte bekannt; diese folgten der Armee und behandelten Verletzte der eigenen Seite. Feinde zu behandeln, war tabu.
Brutal und sinnlos
Auch für die eigenen Leute war Kriegsmedizin bis in die Neuzeit grausam und vor allem eine Sache der Chirurgen, die umgangssprachlich Knochensäger hießen. Die überforderten Ärzte kannten vor allem eine Methode, Verwundete zu behandeln: Sie amputierten die verletzten Gliedmaßen, um Infektionen zu verhindern. Die Wunden brannten sie mit glühendem Eisen aus oder gossen kochendes Öl darüber. Mehr als die Hälfte der Amputierten starb an Blutverlust oder Wundbrand.
Mobile Feldlazarette
Im 19. Jahrhundert entwickelte Dominique Jean Larrey mobile Feldlazarette, die den Heeren folgten, und ein neuer Beruf entstand: Die Träger der Krankentragen und die Krankenfahrer mussten schnell handeln, und die Ärzte mussten entscheiden, welche Verwundeten als erste Behandlung brauchten – ebenso wie heutige Notärzte oblag ihnen auch die harte Entscheidung, welche Verletzten kaum Überlebenschancen hatten.
Larrey diente zwar Napoleon, seine Leute behandelten aber Verletzte beider Seiten. Dies ging einher mit dem bürgerlichen Kodex der Napoleonischen Armeen, der unnötige Grausamkeiten gegenüber dem Feind verbot.
Anekdoten und Überraschungen
Gill Paul ist etwas Großes gelungen: Sie baut Leuchttürme in einem Ozean der Geschichte, der von der Steinzeit reicht bis heute, vom Untergang des Römischen Reiches bis zur Psychoanalyse, von Gebärhilfen bis zum Wissen über den Blutkreislauf, von Magie bis zu Wissenschaft.
Wir erfahren, dass Malaria schlechte Luft bedeutet, weil die Römer glaubten, die Luft in den Sümpfen löse die Krankheit aus, wie der Röntgenapparat entstand oder wie die Cholera grassierte. Das Buch muss der Leser dabei nicht von Anfang bis Ende lesen, sondern kann sich herauspicken, was ihn gerade interessiert. Jedes Kapitel ist in sich schlüssig und dazu ausgesprochen flüssig zu lesen.
Bisweilen haben sich inhaltliche Fehler eingeschlichen. So ist die Entstehung des Roten Kreuzes mit 1959 datiert, also hundert Jahre zu spät. Das trifft nicht den Autor, wohl aber das Lektorat, weil solche Fehler für Verwirrung beim Leser sorgen.
Diese kleinen Mängel sind ärgerlich, verblassen aber vor dem Werk. Es handelt sich mitnichten um eine langweilige Chronik, wie viele Beiträge zur Medizingeschichte. Eine Fülle von Bildern und ein Berg von Anekdoten lässt die Geschichte lebendig werden.
Oft sorgt die Autorin für Überraschungen. So forschten zwar bereits die antiken Ägypter und Mesopotamier in der Frauenheilkunde, im europäischen Mittelalter war die Geburtsmedizin jedoch kein Thema für die Gelehrten. Die Sorge für die Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen blieb den Hebammen vorbehalten und ihrem tradierten Wissen. Auch deshalb starben extrem viele Frauen bei der Geburt und diverse Kinder in den ersten Lebensjahren.
Auch weiß vermutlich kaum jemand, dass Malaria keine Tropenkrankheit ist, sondern in England als „Sumpffieber“ wütete, dass die Pflanzen Silberweide und Mädesüß Vorläufer des Aspirins waren und bereits Hippokrates sie als Mittel gegen Schmerzen kannte.
Aus Fehlern lernen
Die Autorin schafft es meisterhaft, medizinische Meilensteine nicht im Fachjargon zu ersticken, sondern ermöglicht medizinischen Laien, die historischen Umstände und die Bedeutung der vorgestellten Objekte zu verstehen. So ist vermutlich heute kaum jemandem bewusst, dass im 14. Jahrhundert jeder zweite Mensch in Europa an der Pest starb, und dass diese auf die hiesigen Gesellschaften Auswirkungen hatte wie ein Atomkrieg.
„Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten“ lehrt, dass wir auf die Heilkunde unserer Vorfahren weder herabblicken sollten noch diese als „altes Wissen“ verherrlichen. So kannte bereits der Grieche Dioskorides im ersten Jahrhundert n.u. Z mehr als 1000 pflanzliche Heilmittel. Darunter befand sich ein Sud aus Weidenrinde gegen Gichtarthritis, die die Hauptkomponente von Aspirin enthielt.
Zugleich basierten aber viele Methoden, die heute in der „Alternativmedizin“ als „bessere Heilkunde“ gelten auf falschen Vorstellungen, die oft sinnlos waren, bisweilen aus anderen Gründen wirkten als die damaligen Ärzte dachten wie Akupunktur oder den Patienten sogar schweren Schaden bis zum Tod zufügten.
Gill Paul studierte Medizin, aber auch Literatur und Geschichte, und sie schafft es spielerisch, diese drei Disziplinen zu vereinen. Sie verfügt sowohl über das medizinische wie historische Fachwissen, dass für dieses populärwissenschaftliche Werk nötig ist wie auch über das literarische Feingefühl, dieses Wissen in angenehmer Weise zu vermitteln. (Dr. Utz Anhalt)
Quelle: Gill Paul; Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten. Haupt-Verlag Bern (www.haupt.ch). 2017
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.