Sorgt radioaktive Strahlung für „verlorene Mädchen“ nahe Atomkraftwerken?
09.04.2014
In den Gebieten, die nahe von Atomkraftwerken oder anderen Nuklearanlagen liegen, werden mehr Jungen als Mädchen geboren. Noch sei unklar, ob das Phänomen der „verlorenen Mädchen“ mit erhöhten Strahlungswerten zusammenhängt. Auch nach der Atom-Katastrophe von Tschernobyl waren weniger Mädchen zur Welt gekommen.
Langzeiteffekt der Atombombentests und der Tschernobyl-Katastrophe
Bereits im Jahr 2011 waren Schlagzeilen wie „Mehr Jungs durch radioaktive Strahlung“ oder „Mädchenmangel rund um Gorleben“ zu lesen. Damals hatte der Biomathematiker Hagen Scherb vom Deutschen Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt in München eine Studie veröffentlicht, die zeigte, dass die radioaktive Strahlung nach den Atombombentests in den 1960er-Jahren und der Atom-Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 einen Langzeiteffekt auf das Geschlechterverhältnis in Deutschland hat. Wie die Forscher meinen, zeige sich dieser Effekt auch bei der Bevölkerung rund um Nuklearanlagen. Seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl würden demnach 220.000 Mädchen fehlen. Auch die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW hatte bereits vor Jahren darauf hingewiesen, dass nach der Atom-Katastrophe signifikant weniger Mädchen zur Welt kamen. Außerdem sei die Zahl der Totgeburten und Fehlbildungen deutlich angestiegen.
Aktuelle Studie umfasst auch Nachbarländer
In einer aktuellen Studie hat nun Scherb nicht nur Deutschland, sondern auch zwei der Nachbarländer unter die Lupe genommen. Wie verschiedene Zeitungen schreiben, sagte Scherb: „Wir haben für Gebiete rund um Nuklearanlagen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz den gleichen Effekt nachgewiesen – es wurden weniger Mädchen geboren, als statistisch zu erwarten wäre.“ Der Biomathematiker erfasste in Deutschland die Geburtenzahlen von mehr als 18.000 Gemeinden in einem Zeitraum von 1957 bis 2012. In der benachbarten Schweiz waren es Daten von 2.700 Gemeinden und in Frankreich zwischen 1968 und 2011 mehr als 36.500 Gemeinden. Zusammengenommen wurden über 70 Millionen Geburten erfasst.
Effekt der „verlorenen Mädchen“ statistisch nachweisbar
Laut Scherb sei für jedes Gebiet um nukleare Anlagen, also Kernkraftwerke, Endlager oder Forschungsreaktoren, eine Abweichung vom erwarteten Geschlechterverhältnis von mindestens einem Prozent nachzuweisen. Die Studien würden zwar den Effekt der „verlorenen Mädchen“ statistisch nachweisen, doch das Problem sei, dass der Biomathematiker mit seiner Methode nicht beweisen kann, dass radioaktive Strahlung die Ursache dafür ist. Daher versucht der ehemalige Direktor des Instituts für Humangenetik der Charité in Berlin, Karl Sperling, aus biologischer Sicht eine Erklärung zu finden.
Verschiebung des Geschlechterverhältnisses nahe Atomanlagen
Er hat eine Hypothese für die sogenannten „sex odds“, die Verschiebung des Geschlechterverhältnisses in der Nähe nuklearer Anlagen, aufgestellt. „Wir wissen nicht, wie das Geschlechterverhältnis im Moment der Befruchtung ist“, so der Zytogenetiker. „Was wir aber wissen ist, dass 60 Prozent der befruchteten Eizellen in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft unbemerkt absterben. Bei weiteren zehn Prozent der Embryonen kommt es zu einer Fehlgeburt. Das bedeutet, dass nur 30 Prozent aller Befruchtungen auch zur Geburt eines Kindes führen.“
Veränderung in Spermien nach radioaktiver Strahlung
Epigenetische, also durch die Umwelt verursachte Veränderungen könnten auch schon aufgrund sehr geringer Strahlendosen auftreten und dazu führen, dass mehr weibliche Embryonen absterben als männliche, da die Veränderungen bei der Bildung der Keimzellen eine Rolle spielen könnten und einen stärkeren Einfluss auf die X-Chromosomen haben, als auf die kleineren Y-Chromosomen, so der Forscher. Wenn ein Mann radioaktiver Strahlung ausgesetzt war, könne dies dazu führen, dass in seinen Spermien, die X-Chromosomen tragen, eine Veränderung auftritt. Durch die Befruchtung wird dann die Veränderung an den entstehenden weiblichen Embryo weitergegeben. Wenn das X-Chromosom soweit verändert ist, dass es nicht mehr richtig funktioniert, wäre der weibliche Embryo nicht lebensfähig.
Signifikate Zunahme von neugeborenen Jungen
Anfälliger für solche lebensfeindlichen Veränderungen mache das X-Chromosom unter anderem dessen Größe. Hingegen sei das kleinere, zur Entstehung männlicher Nachkommen notwendige Y-Chromosom nicht so gefährdet. So würden mehr Mädchen in einem frühen embryonalen Stadium absterben als männliche Embryonen und die Zahl männlicher Embryonen sei daraufhin höher. Somit würden mehr Jungen als Mädchen geboren. „Scherb hat bislang in 38 Ländern eine solche signifikante Zunahme von neugeborenen Jungen nachgewiesen“, so Sperling. Die Daten seien über viele Jahre hinweg vollständig sowie mit zeitlichem Bezug zum Auftreten von radioaktiver Strahlung. Dadurch würden sie eine Dosis-Effekt-Beziehung aufzeigen.
Effekt wird generell hinterfragt
Der Effekt der „verlorenen Mädchen“ wird von Thomas Jung vom Bundesamt für Strahlenschutz generell hinterfragt. Studien, in denen Menschen radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, gebe es viele. Beispielsweise seien Erwachsene untersucht worden, die als Kinder eine Strahlentherapie erhalten und später eigene Kinder bekommen hatten. Auch dabei habe sich eine Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses gezeigt, jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Demnach zeugten Männer, die als Kind bestrahlt worden waren, eher weniger Jungen als statistisch zu erwarten wäre. Hier sei der von Scherb beschriebene „Verlorene-Mädchen-Effekt“ also nicht nachweisbar.
Methodische Probleme bei Studien
Von Jung kam auch ein Verweis auf methodische Probleme bei Studien, wie Hagen Scherb sie durchführt. Da die Zahlen nicht zeigen, ob Vater oder Mutter radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden waren, sei es schwer, Einflussfaktoren auf das Geschlechterverhältnis zu bewerten. „Weil diese Individualdaten fehlen, kann man eine Auswertung und Interpretation von Daten nur sehr vorsichtig vornehmen“, so Jung. „Die Aussage, dass Strahlen die Ursache für das veränderte Geschlechterverhältnis sind, ist demnach nicht belastbar.“
Durch Atomausstieg entstehen neue Aufgaben
Experten diskutieren aufgrund der Unsicherheiten über eine Veränderung des Grenzwertes für radioaktive Strahlung. So fordern Scherb und die emeritierte Physikprofessorin Inge Schmitz-Feuerhake, die auf dem Gebiet des Strahlenschutzes forschte, mehr Aufmerksamkeit dafür, dass auch geringe Dosen schädlich sein können. Die Grenzwerte müssten reduziert werden. Auch durch den Atomausstieg würden ganz neue Aufgaben entstehen, da durch den Rückbau von Kernkraftwerken radioaktiver Müll entsteht. Die Wissenschaftler kritisieren, dass etwa 95 Prozent des Abrissschutts freigegeben würden da sie nur niedrige Strahlenwerte aufweisen würden und somit in die Umwelt gelangen. Die Sprecherin für Atompolitik der Grünen Bundestagsfraktion, Sylvia Kotting-Uhl, meinte, dass die Festlegung von Grenzwerten immer eine Abwägung zwischen gesundheitlichem Risiko und dem wirtschaftlich Machbarem sei. Sie sei sich sicher, dass aus jeder Nuklearanlage Strahlung in die Umgebung entweiche, wenn auch nur in geringen Mengen. Sie fordert, möglichen Schäden lieber vorzusorgen, auch wenn der Zusammenhang zwischen Strahlung und „Verlorene-Mädchen-Effekt“ nicht nachgewiesen werden kann. (sb)
Bild: Thommy Weiss / pixelio.de
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.