Allein die Bezeichnung Reizstromtherapie löst bei vielen zuerst eine Abwehrreaktion aus. Wer möchte sich schon gerne mit Strom behandeln lassen? Jedoch hat diese Therapieform gerade in der Orthopädie ein großes Einsatzgebiet. Die Reizstromtherapie zählt zur Gruppe der Elektrotherapie, bei der verschiedene Formen des Stroms verwendet werden. Sie gehört in den medizinischen Bereich der Neurostimulation.
Inhaltsverzeichnis
Wirkung und Funktionsweise
Die Reizstromtherapie kommt vor allem in der Schmerzbehandlung zum Einsatz. Aber auch das Trainieren von Muskelzellen ist mit Reizstrom möglich.
Der menschliche Körper ist ein guter Stromleiter und reagiert sehr empfindlich auf schwache Stromstöße unter 40 Volt. Dies macht sich die Reizstromtherapie zunutze. Flüssigkeiten wie Urin, Blut, aber auch die Muskulatur sind gute Stromleiter. Knochen, Sehnen und Haare hingegen nicht. Die Reizstromtherapie verwendet niederfrequente Wechselströme oder Gleichstrom. Elektroden, auf die Haut aufgebracht, übertragen die elektrischen Impulse. In der Regel wird eine Frequenz zwischen einem und 100 Hertz verwendet.
Diese Reizstromtherapie wird als TENS-Reizstrom (Transkutane Elektrische Nervenstimulation) bezeichnet. Die Reizung löst eine sogenannte Gegenirritation im Gehirn aus. Dies soll eine Schmerzlinderung bewirken. Dafür ist ein spezielles Gerät nötig.
Eine weitere Reizstromtherapie ist das EMS (Elektrostimulation des muskulären Systems). Dabei wirkt der Reiz direkt im Muskel. Die Muskeln werden sozusagen künstlich aktiviert, das Gehirn ist dabei nicht beteiligt.
Geschichtlicher Rückblick
In Ägypten bediente man sich bereits 4.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung der Reizstromtherapie. Und zwar mit Hilfe von Zitterrochen und Zitteraalen. Diese beiden Fischarten besitzen ein besonderes Organ, das Elektroplax. Mit diesem können sie elektrische Spannungen erzeugen. Die Stromstöße von bis zu 50 Milliampere sind für den Menschen nicht bedrohlich.
Mit den elektrischen Impulsen versuchten die Menschen im alten Ägypten, aber auch in Griechenland, verschiedene Leiden zu therapieren. Dies zeigen Höhlenzeichnungen circa 2.500 Jahre vor Christus. Ungefähr 400 vor Christus wurde die Reizstromtherapie zur Behandlung von Kopfschmerzen und Arthritis eingesetzt. 46 vor Christus wurde zum ersten Mal der Einsatz der elektrischen Impulse durch die oben genannten Fische erwähnt.
1759 ist in einem medizinischen Fachbuch der Nutzen der Elektrotherapie bei der Behandlung von Kopfschmerzen, Ischiasbeschwerden, Gicht und Nierensteinen erwähnt. Ungefähr seit 1960 wird diese Therapie bei chronischen und neurogenen Schmerzen angewandt.
Der Herzschrittmacher
Wer denkt an den Herzschrittmacher, wenn es um die Reizstromtherapie geht? Jedoch ist dies ist die bekannteste und revolutionärste Form! Dieses kleine, lebensrettende Gerät, das den betroffenen Personen implantiert wird, funktioniert nahezu so, wie die TENS- oder auch EMS-Geräte. Der Herzschrittmacher stimuliert das Herz, er sorgt dafür, dass sich der Herzmuskel kontrahiert. Das ist angezeigt, wenn das Herz zu langsam schlägt.
TENS (Transkutane Elektrische Nervenstimulation)
Die Schmerzforscher Professor Ronald Melzack und Professor Patrick Wall gelten als sogenannte „Väter“ der TENS. Die beiden entwarfen in den 1960ern ein neues Konzept der Schmerzwahrnehmung, die sogenannte Kontrollschrankentheorie. Diese Theorie besagt Folgendes: Ein Schmerzreiz wird auf seinem Weg zum Gehirn im Rückenmark auf eine zweite Nervenzelle umgeschaltet. Diese Schmerzweiterleitung kann blockiert werden. Und zwar durch vom Gehirn absteigende Nervenbahnen oder durch Reize aus der Peripherie. Diese Erkenntnis war die Basis für die TENS-Behandlung.
Eine Menge an Untersuchungen beweist die Wirksamkeit dieser Reizstromtherapie. Jede Ärztin, jeder Arzt, jede Schmerztherapeutin und jeder Schmerztherapeut kennt die Elektrotherapie. Jedoch ist sie immer noch umstritten. TENS ist einfach zu handhaben, die Kosten sind gering und die Behandlung ist nebenwirkungsarm. Sachgemäß angewandt, sind außer eventuell leichten Hautirritationen keine Schäden zu erwarten.
Bei geplagten Schmerzpatientinnen und -patienten ist es in der Regel einen Versuch wert, die Reizstromtherapie einzusetzen. In der Regel wird sie in ein Behandlungskonzept mit eingebaut.
Begleitend setzen Ärztinnen und Ärzte die Elektrotherapie bei Sportverletzungen und Gelenkbeschwerden ein. Weitere Indikationen sind Kopfschmerzen, Migräne, Nervenschmerzen, Tumorschmerzen oder Schmerzen nach Gürtelrose. Aber auch bei Phantomschmerzen ist es einen Versuch wert.
TENS-Geräte sind auch für den Hausgebrauch zu erwerben. Doch hier muss unbedingt auf Qualität geachtet werden. Die Anwendung ist vorher mit einem oder einer Sachkundigen zu besprechen. Manche Behandelnde geben ihren Patientinnen und Patienten ein TENS-Gerät mit nach Hause. Die richtige Anwendung wird vorher in der Praxis besprochen.
Wirkungsweise TENS
Die auf dem Körper aufgebrachten Hautelektroden übertragen Stromimpulse auf den Körper. Die im Gewebe liegenden Nerven werden durch den Strom gereizt. Durch diesen Reiz leiten die Nerven dann elektrische Signale an das Rückenmark weiter. Hier soll sich nun, gemäß der bereits erwähnten Kontrollschrankentheorie, die Wirkung des Reizstroms entfalten.
Höhere Frequenzen zwischen 80 und 150 Hertz unterbrechen die Signalübermittlung ins Gehirn und somit auch die Schmerzwahrnehmung. Niedrige Frequenzen von zwei bis vier Hertz setzen im Gehirn chemische Substanzen frei, durch die die Schmerzwahrnehmung gedämpft werden soll.
Kontraindikationen TENS-Behandlung
Eine TENS-Behandlung sollte nicht erfolgen bei Epilepsie, bei psychischen Erkrankungen und bei Personen, die einen Herzschrittmacher oder einen implantierten Defibrillator haben. Des Weiteren ist die Reizstromtherapie bei Schwangeren und bei Menschen mit akuten Entzündungen kontraindiziert.
Ablauf
Die TENS-Geräte, die nicht viel größer als Handys sind, werden durch zwei oder vier selbstklebende Elektroden mit der Haut verbunden. Der Schmerzort oder der Verlauf der Schmerzen ist wichtig für deren Position. Des Weiteren werden auch der Nervenverlauf, Schmerzpunkte und Akupunkturpunkte mit beachtet. Stromfrequenz und Stromintensität können verschieden eingestellt werden. Dies erfordert eine genaue Einweisung, falls der Patient oder die Patientin das Gerät mit nach Hause bekommt.
Höhere Frequenzen und eine mittlere Stromstärke sollen akute und örtliche Schmerzen eine kurze Zeit lang lindern. Niedrige Frequenzen in Verbindung mit hoher Stromstärke sollen für eine längere Wirkung sorgen. Hierbei werden die Elektroden gerne auf Akupunkturpunkte aufgebracht. Dies kann etwas schmerzen. Ansonsten spürt man nur ein wenig Kribbeln oder Zucken der Muskeln.
Die Anzahl und die Dauer der Reizstromtherapie ist etwas ganz Individuelles und hängt davon ab, wie jeder Mensch darauf reagiert. Eine Behandlung kann zwischen 20 und 50 Minuten dauern. Manche Krankenkassen übernehmen die Miete für ein TENS-Gerät. Jedoch muss dies vorher unbedingt mit der Krankenkasse abgeklärt werden. Findet die Behandlung in der Arztpraxis oder einer Therapiepraxis statt, wird ebenso besser vor Beginn der Therapie die Kostenübernahme geklärt.
EMS (Elektrostimulation des muskulären Systems)
Bekannt und in aller Munde ist EMS vor allem durch das Angebot in Fitnessstudios. Dort wird dies angepriesen als Muskelaufbautraining ohne zeitaufwändiges und anstrengendes Stemmen von Gewichten.
Eigentlich stammt diese Reizstromtherapie aus der Physiotherapie und als Reha-Maßnahme, um einen Muskel nach einer Verletzung wieder aufzubauen. Hierbei werden, ebenso wie bei TENS, Elektroden auf den betroffenen Bereich geklebt und damit die Muskulatur stimuliert, ohne diese aktiv bewegen zu müssen.
EMS-Training
Wie bereits erwähnt, wird EMS in Fitnessstudios angeboten. Beim Stemmen von Gewichten, beim Joggen, bei Gymnastik, einfach bei jeglicher körperlichen Anstrengung: elektrische Impulse werden von Nerven an die Muskeln weitergeleitet, woraufhin sich diese dann zusammenziehen.
Bei EMS ist dies anders. Der Impuls kommt nicht vom Gehirn, sondern durch den Reizstrom. Die Personen, die ein EMS-Training absolvieren, tragen eine besondere Funktionskleidung, in der Elektroden eingearbeitet sind. Diese stimulieren immer wieder bestimmte Muskelpartien. Dadurch kann der Muskel an Masse zunehmen. So wird die Kraft trainiert.
Um jedoch wirklich rundherum fit zu sein, benötigt der Körper auch Ausdauer und Kondition. Und diese zu erlangen, ist mit EMS nicht möglich. Ob das EMS-Training wirklich eine Alternative zu Sport ist, das muss jeder Mensch für sich entscheiden. Auf jeden Fall ist das Bewegen an der frischen Luft schöner und kostet vor allem nichts. Doch wer unbedingt diese Art von Reizstromtherapie ausprobieren möchte, sollte auf gute Beratung setzen.
Kontraindikationen EMS
Wenn Sie sich dazu entschließen, EMS auszuprobieren, sollten Sie dies am besten vorher mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin besprechen. Nicht jeder Mensch ist für diese Art von Reizstromanwendung geeignet. Personen, die einen Herzschrittmacher oder Implantate besitzen, an Epilepsie leiden und Sensibilitätsstörungen haben, sollten nicht zum EMS-Training gehen. Auch für Schwangere ist dies kontraindiziert. Wer sich nicht sicher ist, befragt lieber vorher den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin.
Zusammenfassung
Die Reizstromtherapie ist im Zusammenhang mit Schmerzen eine häufig angewandte Therapieform, vor allem in der Physiotherapiepraxis. Der Einsatz zu Hause ist mit dem richtigen Gerät und entsprechender vorausgegangener Einweisung durchzuführen. Ob sich die Reizstromtherapie lohnt, ist individuell zu beurteilen. Bei chronischen Schmerzen ist sie nach Ausschluss der Kontraindikationen durchaus einen Versuch wert. (sw)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Kristin, Helga; Lenz, Eva: Die Medizinische Fachangestellte, 2. Auflage, Schlütersche
- Bischoff, Hans-Peter; Heisel, Jürgen; Locher; Hermann: Praxis der konservativen Orthopädie, e-book, Thieme 2007
- Stein, Volkmar; Greitemann, Bernhard: Rehabilitation in Orthopädie und Unfallchirurgie, Elektrotherapie, Springer 2015
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.