Ritzen – Warum verletzen sich Menschen selbst?
Selbst verletzendes Verhalten (SVV, umgangssprachlich “Ritzen”) bezeichnet Handlungen, in denen Individuen Körpergewebe zerstören für Ziele, die nicht ästhetisch oder sozial etabliert sind, wie zum Beispiel Piercings, Brandings oder Scarvings. Schnitte im Unterhautgewebe sind bei weitem die verbreiteste Form dieser selbst verursachten Wunden. Umgangssprachlich wird das destruktive Verhalten auch als “Ritzen” bezeichnet.
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Definition
“Es macht mir keine Freunde, in meine eigene Hand zu schneiden, rote Tränen zu beobachten, die einen kleinen Rinnsal bilden, mich verlassen. Die einzige Möglichkeit, mich an mir zu rächen, zu sühnen, für das, was ich sprach und tat. Ohne bewusst gehandelt zu haben. Es kommt mir vor, als hätte ich nie gelacht, nie geweint.” Eine Betroffene
Die Betroffenen verletzen (ritzen) sich an jedem Teil des Körpers, aber meist an den Armen und Handgelenken. Die Schwere der Handlungen variiert von oberflächlichen Wunden bis zu solchen, die dauerhafte Entstellungen hinterlassen.
Die Betroffenen beginnen mit dem Ritzen in der Regel in den späten Teenagerjahren oder im frühen Erwachsenenalter. Manche von ihnen fügen sich nur einige Male Wunden, während andere dieses Verhalten als Teil des Alltags etablieren und es ihnen schlecht geht, wenn sie es zeitweise einstellen.
Direkt nach dem Ritzen fühlen Betroffene, wie (psychischer und körperlicher) Druck nachlässt. Wenn dieses Gefühl abebbt, tritt Scham und Schuld an seine Stelle, gefolgt von der Wiederkehr der quälenden Emotionen, die den Menschen dazu trieben, sich selbst zu verletzen, um ihnen zu entfliehen.
Die Betroffe Eni schreibt über die Narben:
“Lange rote LinienLinien, die ich unter einem langen Pulli versteckeLinien, die mehr als 1000 Worte sagenLinien, die lauter als jeder Schrei schreienLinien, die meine Armen zeichnenLinien, die meine Seele zerstörenLinien, die ich nie vergessen werdeLange rote Linien,die das Leben schreiben.”
Menschen, die sich auf diese Art selbst verletzen, wollen sich nicht umbringen, sondern sich besser fühlen, indem sie sich von emotionalem Stress ablenken, unter dem sie leiden. Das Verhalten zeigt also ein hohes Ausmaß an seelischem Leid, und das wiederum kann auch zu Selbstmordversuchen führen.
Die Wunden am eigenen Körper können außerdem gefährlich werden: Die wenigsten Betroffenen haben eine medizinische Ausbildung, sie können sich schwerer verwunden als beabsichtigt, Infektionen oder andere medizinische Probleme verursachen – von Abszessen bis zu schlecht verheilten Narben.
Menschen aller Gesellschaftsschichten ritzen, aber es ist weiter verbreitet unter sozial Benachteiligten, unter Singles und Geschiedenen, Alleinlebenden und Alleinerziehenden und denjenigen, die kaum Unterstützung von ihren Familien bekommen.
Menschen, die sich selbst verletzen, wurden oft Opfer von Missbrauch oder sind anderweitig macht- und hilflos inmitten schrecklicher Umstände. Selbstmissbrauch erscheint häufig als Ausbruch aus überwältigenden Gefühlen von Isolation, Angst, Mord oder Wahnsinn. Manche, die sich selbst verletzen, erklären, dass ihnen diese Handlungen das Gefühl der Kontrolle in einer Welt geben, die sie nicht kontrollieren können. Sie können damit aber auch körperlich ihren emotionalen Schmerz ausdrücken.
Die Selbstverletzungen bringen zwar einen Augenblick Ruhe, aber dann kehren die schmerzhaften Gefühle zurück. Auch wenn lebensbedrohliche Wunden meist nicht beabsichtigt sind, steigt das Risiko immer schwererer und sogar tödlicher Handlungen.
Im allgemeinen gelten Selbstverletzungen unter Frauen als weiter verbreitet als unter Männern – ob das stimmt ist jedoch unklar. Einige Studien deuten darauf hin, dass Frauen öfter auf diese Art ihren Körper missbrauchen, aber andere kommen zu dem Schluss, dass beide Geschlechter gleichermaßen sich selbst verwunden.
Eingkeit besteht darin, dass die Gründe für Männer und Frauen, “zum Messer zu greifen” sich unterscheiden, und ebenso die favorisierten Methoden. So vermuten manche Wissenschaftler, dass Männer sich häufiger Quetschungen zufügen als Frauen. Sie schlagen sich mit Objekten wie Steinen, Hämmern oder Metallwerkzeug. Die selbst gemachten Wunden von Frauen lassen sich demzufolge einfacher erkennen, weil sie sich eher kratzen oder schneiden.
Allerdings schneiden Männer sich auch und Frauen greifen sich mit stumpfen Gegenständen an. Sophia, die am Borderline-Syndrom leidet, fügt sich Wunden zu, um ihren Körper zu spüren. Sie ging dazu über, ihren Kopf gegen Stein zu schlagen oder sich mit stumpfen Gegenständen zu malträtieren, weil das stärkere Schmerzen hinterließ und so gegen ihre dissoziativen Zustände half.
Die Geschichte der Selbstverletzung
Ritzen sind nicht neu, sondern seit Jahrhunderten bekannt, und das in allen Kulturen – wenngleich sich die Erklärungen und die Muster unterscheiden. Manche Religionsführer verherrlichen Selbstschädigungen als Weg, sich von Sünden zu reinigen. Der Glaube, dass Menschen weniger unter Gottes Strafe leiden, wenn sie sich selbst bestrafen, ist eine Erklärung, warum manche Religionen Selbstverletzungen verherrliche.
Solche Religionen predigen aktive Selbstbeschädigung, Asketismus, als einen Weg, um Gott näher zu kommen. Frühe Christen baten um Gnade von Gott, indem sie fasteten, keinen Alkohol anrührten und auf Sex verzichteten.
Moderner Asketismus wird meist mit Mönchen, Nonnen oder Priestern verbunden. Selbst gewählte Armut oder das Zölibat sind Wege, in denen ein Priester die Askese lebt. Hinduismus, Buddhismus, Islam und Schamanismus vertreten ebenfalls asketisches Verhalten.
Körperliche Demütigung ist eine extremere Form der Selbstbeschädigung, um sich geistig oder spirituell zu reinigen. Menschen, die sich körperlich demütigen, schneiden, verbrennen oder peitschen sich. Im frühen Christen- wie Judentum und im Sufismus trugen manche Gläubige ein Hemd aus Tierhaaren, das auf der nackten Haut sehr kratzte.
Initiationsriten
In einigen Kulturen dienen schmerzhafte Prozeduren dazu, Lebensphasen zu markieren, zum Beispiel die Pubertät. Genitalverstümmelungen, das Entfernen der Klitoris und der Vorhaut, kennzeichnet in einigen Kulturen Afrikas, Arabiens und Australiens den Beginn der Adoleszenz. Auch wenn sich die Betroffenen diesen Akten oft “freiwillig” unterziehen, durch ihre Sozialisiation und den Druck der Gemeinschaft bedingt, werden einige von ihren Stammesmitgliedern gezwungen.
Symptome der Selbstverletzung
Individuelle Selbstverletzung ohne ideologischen Überbau folgt ähnlichen Mustern wie Alkohol- oder Drogensucht, die Betroffenen entwickeln ebenfalls feste Rituale und vertuschen ihr Verhalten. Wie bei anderen Süchten folgt das Verhalten einem Kreis: Zum Beispiel fühlt ein Mensch Angst, dann kommt der Impuls, der Widerstand, die Aufregung und die Entspannung; klingt die ab folgt wiederum die Scham, und ann kehrt die Angst wieder.
Er oder sie weiß zwar häufig, dass er oder sie sich mit dem Verhalten zerstört, fühlt aber, dass es zum Schneiden, Verbrennen und anderen Akten des physischen Schmerzes im Moment keine Alternative gibt.
Wer sich selbst verletzt, täuscht bisweilen auch Unfälle vor, um die Wunden oder Blutergüsse zu erklären. Die Betroffenen tragen Kleidung, die ihre Verletzungen kaschiert, zum Beispiel lange Ärmel auch im Sommer.
Sie wirken verwirrt, tragen scharfe Gegenstände auch in ihrer persönlichen Habe mit sich ohne dafür einen Grund zu haben und suchen sich lange Phasen, in denen sie allein sind. Wer sich selbst verwundet, hat häufig auch Schwierigkeiten, am Arbeitsplatz oder der Schule zu funktionieren und eine geringe Selbstachtung. Dabei geht allerdings Symptom und Ursache einher.
Typisch für Jugendliche, die ritzen, sind folgende Punkte:
1) Sie ritzen meist zu Hause.
2) Sie nutzen Scheren, Schrauben, Heftklammern oder Fingernägel
3) Sie ritzen vor allem im Unterarm und Handgelenk
4) Andere Jugendliche bringen sie auf die Idee
5) Das Ritzen schüttet Adrenalin und Endorphine aus, die Betroffenen spüren ein Glücksgefühl
6) Wie bei anderen Süchten, wird der Druck umso größer, je länger das letzte Ritzen zurück liegt, und die Betroffenen müssen sich mehr und stärker schneiden.
7) Die Betroffenen schämen sich für das, was sie tun.
Ursachen
Menschen, die sich ritzen, berichten typisch von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, Angst und von sozialer Ablehung; es mangelt ihnen an Selbstwert, und sie verzweifeln an Geschehnissen in ihrem Leben. Oft haben sie nicht gelernt, ihre Gefühle anderen Menschen offen zu erklären.
Sie sagen, dass sie es tun, um Stress oder Druck zu lindern, um emotionale Schmerzen zu reduzieren, um sich selbst zu bestrafen für Schuld, die sie empfinden, um zu vermeiden, andere wissen zu lassen, wie es ihnen geht – oder um sich selbst Kontrolle über ihr Leben zu verschaffen. Bewusste Selbstverletzung kann auch ein Symptom für eine zugrunde liegende psychische Krankheit sein, die professionelle Betreuung benötigt.
Ritzen ist ein Leitsymptom der Borderline-Störung. Solche Menschen sind emotional instabil; sie können keine Widersprüche aushalten und trennen die Welt in schwarz und weiß, fühlen sich innerlich leer, können ihre inneren Konflikte nicht ertragen, idealisieren oder verteufeln andere Menschen, können Impulse nicht kontrollieren und führen ebenso intensive wie wechselnde Beziehungen.
Soziale Faktoren begünstigen SVV besonders bei Jugendlichen: Betroffene mit Freunden, die sich ritzen, ahmen oft deren Verhalten nach. Oft verbreitet sich das Ritzen sogar wie eine Mode, vergleichbar dem Rauchen auf der Toilette. Sind die Jugendlichen dazu noch besonders impulsiv, extrem selbstkritisch, verbunden mit einem negativen Selbstbild oder kämpfen sie mit anderen psychischen Störungen, dann sind sie sehr gefährdet, sich selbst zu verletzen.
Die soziale Umwelt kommt hinzu: Ein stressvolles Zuhause oder die Folgen eines Traumas können einen Menschen dazu führen, sich selbst zu schaden, um mit diesen Erfahrungen zurecht zu kommen.
Warnzeichen für Selbstverletzungen
Viele Menschen behandeln ihre Selbstverletzungen als Geheimnis. Pubertierende verstecken ihre Wunden vor Lehrern, Freunden und Familie, Erwachsene vor Partnern, Freunden und Kollegen wie ihren Kindern.
Einige Betroffene haben ein oder zwei enge Freunde, die vom Geheimnis wissen, aber meist vermuten Freunde und Familie nur, dass etwas mit ihrem Familienmitglied passiert oder ahnen überhaupt nichts.
Missbrauch in der Kindheit
Fast die Hälfte aller Betroffenen berichten von physischem und / oder sexuellem Missbrauch während ihrer Kindheit, und fast alle erzählen, dass sie Gefühle nicht offen äußern durften, als sie Kinder waren – besonders Wut und Trauer.
Aufgeregte Teenager fühlen, dass Selbstverletzung unterdrückte Gefühle frei setzt, oder sie bestrafen sich, wenn sie von sich enttäuscht sind. Solch eine Selbstverletzung ist ein Hilferuf.
Wir können unsere Emotionen nicht von Geburt an ausdrücken und mit ihnen umgehen – das lernen wir von unseren Eltern, unseren Geschwistern, Freunden und Lehrern – von jedem in unserem Leben. Ein Faktor, der die Betroffenen prägt ist Entwertung. Ihnen wurde in sehr frühen Jahren beigebracht, dass ihre Interpretationen und ihre Gefühle über die Dinge um sie herum schlecht und falsch waren. Sie lernten, dass bestimmte Gefühle nicht erlaubt sind.
In Elternhäusern mit Missbrauch wurden sie hart bestraft, wenn sie Gedanken und Gefühle äußerten, die nicht erwünscht waren. Zugleich fehlten ihnen positive Rollen, die sie nachahmen konnten. Jemand kann nicht lernen, effektiv mit Stress umzugehen, wenn er mit Menschen aufwächst, die dies ebenfalls nicht können.
Eine Geschichte des Missbrauchs ist zwar häufig unter den Betroffenen, aber nicht jeder, der ritzt, erlitt einen solchen. Manchmal reicht bereits die Entwertung und das Fehlen von Rollenmodellen, besonders, wenn die Hirnchemie der Betroffenen die Weichen stellt, Probleme auf diese Art zu bewältigen.
Suizid
Betroffene wollen sich gewöhnlich nicht töten. Das Verhalten von Suizidalen unterscheidet sich signifikant von Selbstschädigungen in ihrer Phänomenologie, ihren Charkateristika und ihrer Absichten, obwohl sie einige psychosoziale Risikofaktoren teilen.
Betroffene sind nicht notwendig in Gefahr, Selbstmord zu begehen, weil viele von ihnen es erstens niemals versuchen und zweitens keine Suizidgedanken haben. Selbstmord ist ein Weg, sein Leben zu beenden, aber für viele Menschen ist Selbstverletzung ein Weg, das Leben zu bewältigen und fähig zu sein, trotz ihrer emotionalen Schwierigkeiten, weiter zu leben.
Manchmal sterben Menschen als Resultat von Selbstverletzungen. Das geschieht zum Beispiel, wenn sie zu tief schnitten und verbluten, bevor Hilfe kommt, oder wenn sie sich selbst vergiften und dabei eine zu starke Dosis einnehmen. Beim Ritzen in die Unterhaut ist die Gefahr zu sterben, aber gering.
Umgekehrt steigt das Suizidrisiko sogar, wenn die Betroffenen daran gehindert werden, sich selbst zu verletzen. So bizarr es sich für Außenstehende anhört: Manchmal ist Selbstschädigung die sicherste Option – nämlich dann, wenn die Alternative der Wunsch ist, das Leben zu beenden. Es ist also gefährlich, jemanden davon abzuhalten, sich selbst zu verletzen, ohne ihm realistische Mechanismen zu zeigen, seine Probleme in den Griff zu bekommen.
Studien ergaben, dass Menschen, die sich selbst verletzen, nicht nur apathischer sind als Nicht-Betroffene und weniger Bindung an ihre Familien haben, sondern Suizid auch weniger fürchten und eher bereit sind, ihn zu versuchen. Deshalb ist es essentiell, die Motivation der Betroffenen darauf zu untersuchen, ob Gedanken an Suizid eine Rolle spielen und ebenso die psychiatrischen Symptome zu beachten, die während der Therapie auftreten.
Schizophrenie, Psychosen und Depression
Schizophrene verletzen sich selbstt, nicht um sich bewusst zu bestrafen, sondern um die halluzinären Stimmen zum Verstummen zu bringen, die ihnen Instruktionen einflüstern. Sie fühlen sich verpflichtet, diese Stimmen, Geister oder Dämonen zu eliminieren oder sind so verzweifelt, dass sie alles tun, um die Stimmen auszulöschen. Oder sie verletzen sich, um sich von den Stimmen abzulenken.
Von dieser Störung Betroffene glauben auch oft wahnhaft, das sie sich selbst verletzen müssten – Gott wolle es so, oder sie könnten so etwas Schreckliches aufhalten, oder sie tun es, weil sie denken, sie seien von bösen Geistern besessen.
Ähnlich wie eine Schizophrenie führen auch drogeninduzierte Psychosen zu Selbstverletzungen. Oft entsteht Selbstverstümmelung aus körperlichen Einbildungen, und die Patienten versuchen, etwas aus ihrer Haut zu entfernen: Parasiten, Würmer oder Dämonen.
Bei Depressionen, sind Selbstverletzungen ein Versuch, die negativen Stimmungen zu regulieren – ähnlich wie bei Borderlinern. Es kann sich auch um Selbstmordversuche handeln. Bei Depressiven ist die Zerstörung des eigenen Körpers Ausdruck nihilistischer Truggebilde, die ihnen suggerieren, dass etwas Entsetzliches passiert – zum Beispiel der Glaube, dass ihre Augen dem Teufel gehören und sie diese deshalb entfernen müssten.
Solche Wahnvorstellungen sind nicht für alle Störungen des depressiven Formenkreises typisch, sondern traten vor allem bei Major-Depressionen auf. Diese entstehen meist im dritten Lebensjahrzehnt, halten mindestens zwei Wochen an und sind mit extremen Gefühlen der Hoffnungs-, Wert- und Sinnlosigkeit verbunden.
Borderline Persönlichkeitsstörung
Diese Störung kennzeichnen instabile Beziehungen, Selbstbilder und Affekte ebenso wie unkontrollierte Impulse. Sie beginnt in der Regel in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter. Patienten versuchen alles, um das Gefühl der Verlassenheit zu bekämpfen. Sie drücken dies aus in einem wiederkehrenden suizidalen und / oder selbstschädigendem Verhalten. Gefühle von Leere, intensiver Wut, Dissoziationen und Paranoia sind typisch.
Manche der Betroffenen verletzen sich selbst, weil sie glauben, sich bestrafen zu müssen, und meinen, sie verdienten, missbraucht zu werden. Dieser Glaube kommt häufig daher, dass sie als Kinder psychische und / oder physische Gewalt erlitten. Jetzt halten sie das Muster des Missbrauchs aufrecht, indem sie ihn immer wieder am eigenen Körper vollziehen.
Viele der Patienten haben Probleme, Ärger auf eine gesunde Art auszudrücken. Stattdessen verletzen sie sich selbst, damit andere sich schlecht fühlen für etwas, das sie sagten oder taten. Borderliner manipulieren also aktiv-passiv mit ihrem eigenen Leid, und das geht bis zu immer wieder kehrenden Spielen mit Selbstmordverhalten.
Selbstbestrafung und Bestrafung anderer Menschen sind zwei wesentliche Gründe, warum sich Borderliner selbst verletzen. Ein dritter ist für Außenstehende schwer nachvollziehbar: Als Folge ihrer Traumata finden Borderliner schwer einen Zugang zu ihren Gefühlen, ihre Emotionen und Erinnerungen empfinden sie als Splitter, die als Alpträume im Schlaf oder als Irritationen im Wachzustand erscheinen; sie dissoziieren und verlieren das Gefühl für Raum und Zeit. Durch die Wunden fühlen sie sich wohl: Der Körper produziert jetzt Schmerzkiller namens Endorphine. Diese Endorphine wirken ähnlich wie Morphium und reduzieren Schmerz und Stress. Die emotional instabilen Borderliner können so ihre Emotionen besser steuern und fühlen sich besser.
Eine Betroffene schreibt über das Ritzen: “Ich weiß, dass ich es für mich teilweise will, weil ich mich bestrafen will, weil ich so ein böser Mensch bin. Ich brauche es, um zu zeigen, dass es mir schlecht geht, weil mich sonst niemand wahrnimmt (wobei ich Sommer wie Winter langärmlig laufe und auch mit Stulpen) … Verrückt nicht ?”
Ess-Störungen
Menschen, die unter Ess-Störungen leiden sind höchst anfällig für Selbstverletzungen: Selbstschädigendes Verhalten ist eines der Symptome von Ess-Störungen ebenso wie das selbst induzierte Erbrechen oder exzessiver Sport mit der Intention, sich selbst Schmerzen zuzufügen.
Vermutlich 25 % aller Ess-Gestörten verletzen sich selbst, insbesondere Bulemiekranke. Für viele von ihnen existieren Selbstschädigung und Ess-Störung nebeneinander, andere ersetzen eine Ess-Störung durch Ritzen. Wenn jemand versucht, sein Verhalten zu ändern, ohne psychisch bereit dazu zu sein (zum Beispiel, um jemand anders zu gefallen), dann nimmt leicht eine andere Selbstzerstörung den Platz ein. Das liegt daran, dass dieses Verhalten dem Individuum dazu dient, intensive Gefühle zu bewältigen, auszuschalten und abzuwenden – Wut, Scham, Trauer, Einsamkeit oder Schuld. Die Betroffenen müssen also zuerst in der Lage sein, diese Gefühle zu benennen und Wege zu finden, mit ihnen umzugehen, die sie aus dem Kreis der Selbstschädigung hinaus führen.
Für einige Menschen sind Selbstverstümmelungen und Ess-Störungen eine Form der Bestrafung und drücken einen Hass auf den eigenen Körper aus. Wenn jemand ein schlechtes Selbstbild hat und an einer Ess-Störung leidet, dann verliert dieser Mensch sein Gefühl für sich selbst, was zu einem mangelnden Respekt für seinen Körper führt. Das öffnet die Tür für Selbstverstümmelung. In der Welt von jemand mit einer Ess-Störung, besonders bei einer Form, die auf Routine und Kontrolle basiert, kann die Selbstverletzung außerdem zu einem Ritual der Bestrafung werden, weil dieser Mensch die selbst auferlegten Regeln nicht einhält.
Ritzen, Borderline und Ess-Störungen sind nicht strikt voneinander zu trennen. So schreibt eine Betroffene, die am Borderline-Syndrom leidet: “Ich ritze mich nun mit einigen Unterbrechungen seit zehn Jahren und zum Teil füg ich mir Brandwunden zu.Wenn ich nicht SV Vmachen, trinke ich oder ich hab mein Essverhalten nicht unter Kontrolle, aber immer schade ich mir selbst.Egal wie lang ich es schaffe mir nicht weh zu tun immer wieder kommt es dazu und ich fange wieder von vorne an. Ich kämpfe mitlerweile nicht mehr dagegen an, aber trotzdem würde ich gerne die Anspannung, welche das SVV auslöst los werden – nur wie? Keine Entspannungsübung hat bisher geholfen, und bis jetzt haben Skills mich immer nur wütend gemacht was das SVV am Ende verschlimmert hat.”
Alkoholkrankheit
Aloholmissbrauch ist nicht primär ein individuelles oder psychologisches Phänomen, sondern ein soziologisches, dass einhergeht mit psychischen Strukturen, die auch für Suizidalität gelten. Die Beziehung zwischen Alkoholismus und Selbstzerstörung ist komplex und unterscheidet sich zwischen den Geschlechtern, Kulturen und Ländern.
Problematischer Alkoholkonsum belastet die sozialen Beziehungen und das Familienleben und bedeutet Risiken nicht nur für das Individuum, sondern auch für Beziehungskonflikte und Familienzerstörung.
Alkohol führt oft zu einem Langzeitrisiko für Selbstschädigung, zum Beispiel durch finanziellen und sozialen Ruin, häusliche Gewalt und negativen Gefühlen. Kurzfristig steigert er das Risiko für impulsives und destruktives Verhalten, sogar bei Menschen mit einem chronischen Alkoholproblem, die Alkohol gewöhnt sind.
Selbstverletzungen oder Selbstmord können am Ende einer Alkoholikerkarriere stehen, aber eine bedeutende Anzahl von Alkoholabhängigen nutzen Selbstverletzung, um den negativen Folgen des Alkohols zu entkommen.
Umgekehrt ist der Alkoholrausch gefährlich für Menschen, die bereits ritzen, weil sie die Kontrolle über die Tiefe der Schnitte verlieren können. Eine Betroffene berichtet: “.. als ich mal auf einer Party alkoholisiert war, hab ich sehr krass geritzt, so dass mein ganzes linkes Hosenbein von Blut durchnässt war. Dass man mit Alkohol im Blut nicht mehr alle Sinne beisammen hat, ist bekannt. also glaube ich auch, dass man das Ritzen da nicht mehr im Griff hat. ich bin mit Alkohol im Blut schmerzunempfindlicher. Alkohol und ritzen ist eine gefährliche Sache.”
Eine andere schreibt: “Alkohol betäubt, also wenn ich Alk trinke habe ich das Ritzen nicht mehr unter Kontrolle – es ist wie so ein Traum. Ich kann mich nicht an Schmerzen erinnern, nur Blut, überall Blut.”
Alkohol verstärkt die Gefühle, nach schwerem Konsum vor allem die negativen. Für jemand, der sich selbst verletzt, um den belastenden Emotionen zu entfliehen, hat das fatale Folgen. Ein Betroffener schreibt: “Wenn ich betrunken bin und mich auf mein Bett fallen lasse, bekomme ich so starke Depressionen, dass ich mich am liebsten umbringen würde! Letzens wär es fast passiert, durch diesen Scheiß Alkohol! Ich habe ein Drittel meiner richtig dicken Narben nur vom Alk! Also wenn ihr trinkt und nach Hause kommt, dann bringt euch selbst in Sicherheit indem ihr vorher alles spitze einschließt.”
Behandlung
Wenig Erfolg verspricht eine Behandlung, wenn die Betroffenen lediglich ein selbstschädigendes Verhalten bzw. Ritzen durch ein anderes ersetzen. Dann geht es ihnen bisweilen sogar schlechter. So schreibt eine Betroffene: “Wenn ich das Schneiden durch Alkohol, Essen oder dergleichen ersetze, fühle ich mich erst recht Scheiße, weil es für mich eine Verlagerung ist aber leider nicht die Lösung des Grundproblems. Psychpharmaka nehme ich eigentlich nur, wenn es nicht anders geht, sie lösen nur Nebenwirkungen aus, und die sind zum Teil nicht ohne. Ich fühle mich manchmal dieser Anspannung, die zum SVV führt, wie ausgeliefert. Manchmal kann ich das ganze dann verschieben, aber nach ein paar Stunden geht es nicht mehr. Meine Gednaken kreisen dann nur noch darum, und erst, wenn die Anspannung weg ist, kann ich normal weiter machen.”
Betroffene selbst schlagen folgende Alternativen zum Ritzen vor:
- durch Brennesseln laufen
- Musik hören
- Gefühle aufschreiben
- Zeichnen
- einen Brief an die Person schreiben, die das Leid verursacht
- Eiswürfel in der Hand zergehen lassen
- Kaltes Wasser über Beine und Arme laufen lassen
- mit nem roten Stift Linien auf den Arm malen, oder gefärbtes Wasser über die Stellen laufen lassen, um Blut zu simulieren.
Andere berichten darüber, dass sie, um das Schneiden zu vermeiden
- gegen Kissen schlagen,
- telefonieren oder chatten,
- mit jemand drüber reden,
- weinen, wenn man kann,
- schlafen,
- Sport treiben,
- ein Gummiband um den Arm binden,
- laut singen,
- laut schreien,
- in ein Kissen beißen,
- kalt duschen,
- Freunde treffen,
- Videospiel spielen- die Wohnung umräumen,
- eine Zeitung zerreißen,
- im Garten arbeiten,
- einen Pflummi an die Wand werfen.
Selbst verletzendes Verhalten ist oft schwer zu erkennen, zu diagnostizieren und zu behandeln. Oft zeigt es eine dahinter liegende psychische Störung – das muss aber nicht sein. Wenn sich Ritzen mit Suchtverhalten paart, ist es noch schwerer zu behandeln. Die Betroffenen brauchen dann eine spezielle Therapie, die sich zugleich beiden Problemen zuwendet.
Psychotherapie
Ritzen geht einher mit geringem Selbstwertgefühl, Selbsthass und Unzulänglichkeit. Ein Psychotherapeut, der sich auf SVV spezialisiert, wird mit den Betroffenen diese Gefühle diskutieren, die Ursache der emotionalen Schmerzen identifizieren und Strategien entwickeln, um die Schmerzen zu reduzieren und unter Kontrolle zu bringen.
Der Therapeut kann mit den Betroffenen auch Übungen der Achtsamkeit durchführen, und Meditation ebenso wie kreativer Ausdruck können den Patienten helfen, in der Zukunft erregende Situationen zu meistern, ohne den Impuls zu empfinden, sich selbst zu schneiden.
Dialectical Behavior Therapy (DBT)
Dialectical behavior therapy, die dialektische Verhaltenstherapie entwickelte Dr. Marsha Linehan in den 1970ern, um die Borderlinestörung bei Erwachsenen zu behandeln.
DBT dient also dazu, bei extremer emotionaler Instabilität zu helfen – also der Unfähigkeit, intensive Gefühle zu managen. Diese mangelnde Konrolle führt zu Selbstzerstörung und Selbstverletzung. DBT lehrt Techniken, diese Emotionen zu verstehen, ohne sie zu beurteilen gibt außerdem das Handwerkszeug, das Verhalten auf eine Art zu ändern, die das Leben der Kranken verbessert. Das erfordert aber die Bereitschaft der Betroffenen und ist ein ebenso langer wie harter Weg.
Das zentrale Ziel ist es, das problematische Verhalten zu ändern. Dies wird versucht, indem die Patienten sich darauf fokussieren, ihre Gedanken und Gefühle zu steuern, die zum schädigenden Verhalten führen ebenso wie dadurch, Probleme zu lösen, die diese Gefühle, Gedanken und Selbstverletzungen verursachen.
Medikation
Psychiatrische Meditation für SVV ist ungewöhnlich, aber Menschen, die ritzen brauchen häufig Medikamente für Komorbiditäten wie Depression oder Bipolarität. Wenn die Betroffenen keine weiteren Störungen haben, sind Medikamente nicht zu empfehlen, denn sie verdecken Gefühle, mit denen sich der Mensch auseinander setzen muss, um die Selbstverletzung zu beenden.
Familientherapie
Fast alle Menschen, die sich ritzen, insbesondere Teenager, wenden sich von Freunden und Familie ab, offenbaren sich diesen aber zugleich als erstes. Dann suchen sie Hilfe über das Internet. Die nächste Adresse sind Psychologen.
Entscheidend für Angehörige ist, sich klar zu machen, dass der Mensch, der sich ritzt, trotzdem der gleiche Mensch geblieben ist, und das Ritzen gerade nicht in das Zentrum der Gespräche mit ihm stellen. Eltern sind gut beraten, ihn ganz “normal” zu behandeln, also weder zusätzliche Zwänge einzuführen, die das Ritzen sowieso nicht stoppen, aber mit ihm auch nicht wie mit einem rohen Ei umzugehen. Die Angehörigen sollten das SVV nicht in ihr Leben lassen. Dieses Verhalten übt eine enorme emotionale Macht aus, und die Familie sollte hier abblocken.
Familientherapien sollen den Patienten und ihrer Familie helfen, zu erkennen, wie das Ritzen die gesamte Familiendynamik beeinflusst. Die Therapie dient auch dazu, die Familie über SVV aufzuklären und ihnen Wege zu zeigen, wie sie am besten damit umgehen können.
Schwieriger wird es, wenn die Familie selbst der Auslöser für die Störung ist. Kaltherzige Mütter, schlagende Väter, eine Erziehung, die dem Kind ständig die Schuld für alles gibt, Drogenmissbrauch und fehlende Kommunikation sind Kernfaktoren, die zum Ritzen führen. Solche Eltern sind leider selten bereit, ihre Fehler einzugestehen. Angehörige finden Hilfe zum Beispiel auf der Website www.rotelinien.de oder auf www.svv-community.net
(Somayeh Khaleseh Ranjbar, übersetzt und ergänzt von Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
Autoren:Dr. phil. Utz Anhalt, Barbara Schindewolf-LenschQuellen:- Das Online-Familienhandbuch wird herausgegeben vom Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP): www.familienhandbuch.de (Abruf: 17.08.2019), Ritzen – warum verletzt sich mein Kind selbst?
- Paul L. Plener; Thorsten Sukale; Rebecca C. Groschwitz; Emanuel Pavlic; Jörg M. Fegert: „Rocken statt Ritzen“, in: Psychotherapeut, Volume 56 Issue 1, 2014, Springer Link
- Franz Petermann; Dennis Nitkowski: "Selbstverletzendes Verhalten: Merkmale, Diagnostik und Risikofaktoren", in: Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, Volume 61 Issue 1, 2011, Thieme Connect
- Kathleen Seifert: Ritzen als Problem selbstverletzenden Verhaltens bei Mädchen in der Adoleszenz. Grenzen und Möglichkeiten schulischer Intervention, Grin Verlag, 2005
- Ulrich Sachsse: Selbstverletzendes Verhalten, Vandenhoeck & Ruprecht, 2008
- Franz Petermann; Sandra Winkel: Selbstverletzendes Verhalten: Erscheinungsformen, Ursachen und Interventionsmöglichkeiten, Hogrefe Verlag, 2005
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.