Phantomschmerzen, auch Deafferenzierungsschmerzen genannt, sind Schmerzen, die nach Amputation von Gliedmaßen entstehen können. Früher wurden diese Schmerzen als Halluzination abgetan. Mittlerweile ist bekannt, dass es die Phantomschmerzen wirklich gibt und dass 50 bis 80 Prozent der Amputierten davon betroffen sind.
Inhaltsverzeichnis
Ursachen für Amputationen
Ursachen für Amputationen sind:
- arterielle Durchblutungsstörungen,
- Unfälle,
- Diabetes,
- Tumore,
- Infektionen und
- genetisch bedingte Fehlbildungen
Art der Schmerzen
Die Art des Schmerzes bei Phantomschmerzen ist völlig individuell. So werden die Beschwerden ganz unterschiedlich wahrgenommen. Ausprägung, Art und Intensität sind ganz verschieden.
So wird dabei von leichten bis hin zu massiven, unerträglichen Schmerzen berichtet, die
- ziehend,
- stechend,
- brennend,
- einschießend und
- krampfartig
sein können.
Dies wird begleitet von Kribbeln, Berührungsempfindlichkeiten und Zuckungen. Häufig werden die Phantomschmerzen getriggert von
- Klimaveränderungen,
- Wetterlage,
- Kältereize und
- emotionalem Stress.
Rückblick
Erstmals beschrieben wurden Phantomschmerzen von dem französischen Chirurgen Ambroise Paré (1510 – 1590). Er beobachtete das Phänomen in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts bei verwundeten Soldaten.
Dieser unterschied damals schon zwischen Phantomschmerzen, Stumpfschmerzen und Phantomempfindungen. Er vermutete als Ursachen für die Schmerzen einen Zusammenhang zwischen peripheren Veränderungen im Stumpf und einer Art Schmerzgedächtnis.
Als wohl berühmtester Phantomschmerzpatient ging Lord Nelson, britischer Admiral, in die Geschichtsbücher ein. Er verlor 1797 seinen rechten Arm in einer Schlacht.
„Ist dies wirklich ein echter Schmerz?“ – dies fragten sich damals viele. Silas Weir Mitchell, ein amerikanischer Chirurg, prägte 1872 den Begriff „Phantom“ als Bezeichnung von Empfindungen, die in einem nicht mehr vorhandenen Körperteil wahrgenommen werden.
Jahrelang galt der Phantomschmerz als Hirngespinst, die Betroffenen wurden damit nicht ernst genommen. Lange nahm man an, dass die Schmerzen aus einer Entzündung durch durchtrennte Nervenbahnen herrühren.
Daraufhin wurden die Betroffenen ein zweites oder drittes Mal operiert – natürlich ohne Erfolg. Jedoch reifte dann die Erkenntnis, dass es solche Entzündungen im Bereich der durchtrennten Nerven durchaus geben kann, die jedoch nicht die Ursache für die beschriebenen Phantomschmerzen sind.
Phantomempfindungen
Phantomempfindungen sollten stets von Phantomschmerzen abgegrenzt werden. Unter Phantomempfindungen werden nicht-schmerzhafte unangenehme Empfindungen verstanden.
Diese treten bei 80 bis 100 Prozent der Amputierten auf. Diese werden als völlig normal beschrieben und seien hilfreich beim Gebrauch einer Prothese.
Stumpfschmerzen
Auch Stumpfschmerzen müssen bei einer Diagnose unterschieden werden. Dies sind wirkliche Schmerzen im Amputationsgebiet, direkt am Amputationsstumpf. Diese treten nach Heilung der Narbe auf, haben also nichts mit dem direkten Wundschmerz zu tun.
Leider treten diese häufig zusammen mit Phantomschmerzen auf, was natürlich eine Differenzierung sehr erschwert. Stumpfschmerzen können durch externe Reize ausgelöst werden.
Der erste entscheidende Durchbruch zur Aufklärung
Ein entscheidender Durchbruch bei der Erforschung der Phantomschmerzen gelang 1998 dem indischen Neurologen Vilayanar S. Ramachandran.
Er fand durch viele Experimente im Rahmen seiner Forschung an der University of California in San Diego heraus, dass wenn er den Patienten auf der linken Gesichtshälfte berührte, dieser eine Berührung seines linken Daumens empfand.
Ramachandran untersuchte weiter. Er berührte die linke Oberlippe und dann den linken unteren Kiefer des Patienten, woraufhin dieser zuerst etwas am linken Zeigefinger und dann seinen kleinen linken Finger bemerkte. Dazu muss erwähnt werden, dass der linke Arm des erwähnten Patienten amputiert war.
Ramachandran folgerte daraus, dass die gesamte Struktur der fehlenden Hand im Gesicht wieder zu finden war. Andere, ebenfalls amputierte Patienten konnten zum Beispiel zwischen kalt und heiß unterscheiden. Er entwickelte daraus die sogenannte cortical-re-mapping Theorie, als Ursache für Phantomschmerzen.
Die Großhirnrinde
Jedes Körperteil ist im Cortex, der Großhirnrinde repräsentiert. Dies erinnert an eine Landkarte, die cortikale Karte. Dies wird nach Wappenfeld und Rasmussen, 1950, „Homunculus“ (Menschlein) genannt. Es ist eine Zuordnung von motorischen und somatosensorischen Arealen der Großhirnrinde zu den Körperteilen des Menschen.
Diese Areale nehmen Empfindungen der Körperteile auf, verarbeiten sie und leiten sie weiter. Daraus entstehen dann Wahrnehmungen. Und bei einer Amputation passiert dann Folgendes: das zuständige Areal für das amputierte Gebiet existiert nicht mehr, wodurch sich das Gehirn daraufhin umstellt.
Das ist durch die sogenannte corticale Plastizität möglich. Dieser Vorgang jedoch läuft bei manchen Patienten unvollständig oder falsch ab. Das verwaiste Hirnareal wird vom benachbarten Anteil besetzt, ähnlich wie auf einer Landkarte, wenn Grenzen überschritten, beziehungsweise erweitert werden.
Damit werden auch die Empfindungen aus diesem Gebiet in das fehlende hinein übertragen. Und genau dieser Prozess nennt Ramachandran „Remapping“, also Umkartierung.
Um bei dem oben genannten Beispiel des Patienten mit dem links amputierten Arm zu bleiben: Die Repräsentation des Gesichtes liegt im Cortex genau neben der der Hand. Damit werden Sinnesreize, die auf der Gesichtshaut wahrgenommen werden nicht nur in eine, sondern in zwei Cortex Regionen weiter geleitet, dem Gesicht und der Hand.
Und dieses Fehlverhalten wird dann als Schmerz wahrgenommen, so die Forschungsergebnisse von Ramachandran.
Der Neurologe Ronald Melzack gibt dazu weitere Erklärungen. Die Hirnregion eines amputierten Körperteils sucht auch nach der Amputation weiter nach Signalen, von denen sie ja keine bekommt.
Jedoch strömen Nervensignale der benachbarten Region in dieses verwaiste Areal vor, dadurch werden die Signale überbewertet, wodurch dann der Schmerz entsteht. Auch hat Melzack festgestellt, dass jeder Amputierte sein eigenes Phantom seiner verlorenen Extremität entwickelt. Schmerzpatienten entwickeln ein verzerrtes Trugbild.
Am häufigsten sind Extremitäten betroffenen
In den meisten Fällen sind von Phantomschmerzen die Extremitäten betroffen. Jedoch sind auch Fälle nach einer Brustamputation oder nach der Extraktion eines Zahnes bekannt.
2019 wurde eine deutsche Befragung durchgeführt. Hierbei waren bei 95,5 Prozent das Bein und in 4,5 Prozent der Arm (vor allem Finger oder deren Teile) betroffen.
In 42,5 Prozent der Fälle war die Ursache dafür ein Unfall, gefolgt von 24 Prozent einer arteriellen Durchblutungsstörung, je bei neun Prozent Diabetes oder ein Tumor, in 7,5 Prozent der Fälle Nachwirkungen des Krieges und in 6,4 Prozent eine Entzündung respektive Infektion.
Am häufigsten treten die Phantomschmerzen in den ersten vier Wochen nach der Amputation beziehungsweise ein Jahr danach auf.
Charakteristik der Schmerzen
Die Phantomschmerzen werden fast ausschließlich im distalen Bereich der fehlenden Extremität erlebt. So wie in unserem oben beschriebenen Beispiel zeigten sich die Phantomschmerzen in den Fingern.
Schmerzen werden also in Fingern, Zehen, Handflächen und Füßen beschrieben. Am häufigsten werden diese als brennend, ziehend, stechend oder krampfartig bezeichnet. Sie treten urplötzlich auf.
Die gefühlten Empfindungen erinnern an die vor der Amputation erfahrenen Schmerzen sehr genau in Qualität und Lokalisation. Ungefähr ein Drittel der Patienten beschreiben ein sogenanntes „telescoping“, ein Gefühl, als ziehe sich das Phantomglied in die verbleibende Gliedmaße zurück.
Entstehungsmechanismus/Ursachen
Diskutiert werden für das Entstehen der Phantomschmerzen sowohl periphere, als auch zentrale Ursachen. Dem Körper wird plötzlich eine Gliedmaße weggenommen. Dies führt zu einer Unterbrechung des normalen zuführenden Einstroms ins Rückenmark und ins Gehirn.
Dies hat Veränderungen im schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden System zur Folge. Periphere Veränderungen entstehen im Stumpfende. Wird ein peripherer Nerv durchtrennt, sprießen neue nervale Strukturen ins Stumpfende ein.
Diese reagieren hochsensibel, vor allem auf mechanische Reizung. Verstärkt spontane neuronale Entladungen sind möglich, was nach zentraler Verarbeitung im Gehirn als Phantomschmerz wahrgenommen werden kann.
Ausgeprägte Phantomschmerzen wurden zum Beispiel auch in Verbindung mit pathologischen Stumpfveränderungen, wie Hautläsionen, Infektionen und Durchblutungsstörungen festgestellt.
Periphere Veränderungen als alleinige Ursachen für das Entstehen von Phantomschmerzen zu sehen wird durch weitere Beobachtungen entkräftet. So leiden viele Betroffenen unter diesen Schmerzen, ohne dass der Stumpf pathologisch verändert ist.
Phantomschmerzen wurden auch beobachtet, wenn periphere Reize durch Lokalanästhetika oder aufgrund kompletter Durchtrennung des Rückenmarks blockiert sind. Demnach suchte man nach weiteren Ursachen zentraler Art.
Zunächst wurden Veränderungen auf spinaler Ebene gefunden. So zeigte sich eine erhöhte Erregbarkeit der Hinterhornneurone mit gleichzeitiger Reduktion inhibitorischer Prozesse. Der Hinterhorn bezeichnet den dorsalen Abschnitt der grauen Substanz des Rückenmarks und Neuron ist eine elektrisch erregbare Zelle.
Auch wurde festgestellt, dass Neurone, die ihren ganz normalen zuführenden Einstrom verloren haben, plötzlich auf benachbarte, intakte Nerven reagieren können.
Nach diesen Erkenntnissen war jedoch klar, dass sich diese Mechanismen weiter bis in das zentrale Gehirn auswirken. Dafür spricht zum Beispiel, dass sich Stress, Angst, Aufmerksamkeit auf die Qualität und Intensität von Phantomschmerzen auswirken.
Des Weiteren wurde zufällig festgestellt, dass diese Schmerzen nach zerebralen chirurgischen Eingriffen oder kortikalen Läsionen verschwanden. So wird eine kortikale Reorganisation nach einer Amputation diskutiert. Dies ist die bereits oben beschriebene Verschiebung der umliegenden kortikalen Regionen in das sozusagen verwaiste Areal.
Spiegeltraining
Vilayanar S. Ramachandran entwickelte 1996 für Betroffene als ganz besonderes Therapieverfahren das Spiegeltraining. Der Patient oder die Patientin sitzt oder steht vor einem Spiegel und bewegt die gesunde Gliedmaße.
Durch den Spiegel haben die Betroffenen den Blick auf die fehlende Seite. Dadurch lässt sich das Hirnareal aktivieren. Dieses Therapieverfahren wurde weiterentwickelt. In der Universität von Manchester werden Computersimulationen verwendet, um bei den Patienten realistische Illusionen zu erzeugen.
Des Weiteren wurde festgestellt, dass ein Training, eine Therapie bereits vor der Amputation wichtig ist, um Phantomschmerzen entgegenzuwirken. So wurde ein präoperatives Schmerzmanagement entwickelt, wozu auch das frühe Tragen einer Prothese gehört.
Forscher stellten auch fest, dass das Wahrnehmen des Körperbildes völlig individuell ist. Dieses ist ja bereits genetisch vorgeformt und kann sich auf das Entstehen von Phantomschmerzen auswirken.
Diagnose
Wichtig und essentiell für eine richtige Diagnose ist die Abgrenzung von Phantomempfindungen und Stumpfschmerzen. Wenn hier nicht genau unterschieden wird, ist der Therapieansatz falsch gewählt.
Wichtig dabei ist eine ausführliche Anamnese. Die auslösenden Faktoren sind zu hinterfragen:
- Waren bereits vor der Operation Schmerzen vorhanden, wenn ja wo und in welcher Art?
- Sind die Betroffen bereits Schmerzpatienten?
- Wurden die postoperativen Schmerzen richtig behandelt?
- Wie ist es um die Prothese bestellt?
Bei Phantomschmerzen existiert nicht die eine Therapie. Deshalb ist eine multimodale Schmerztherapie anzustreben.
Therapien
Wie bereits erwähnt, sind mehrere Therapieformen anzuwenden. Bei der Erstellung des Therapieplans sollte die medizinische, physiotherapeutische und chirurgische Sicht mit einbezogen werden, um eine multimodale Schmerztherapie zu ermöglichen.
Der Phantomschmerz wird selten geheilt, jedoch kann dieser gelindert und auf ein minimales Maß eingedämmt werden.
Bei der medikamentösen Therapie werden verschiedene Mittel angewandt:
- tetrazyklische Antidepressiva,
- Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer,
- Antikonvulsiva und
- Opioide.
Weitere Therapieverfahren sind:
- Kognitive Verhaltenstherapie,
- Biofeedback,
- Spiegeltraining,
- myoelektrische Prothese (im Prothesenschaft befinden sich Elektroden, die Kontraktionen der im Stumpf vorhandenen Muskeln erfassen und in Bewegungen übersetzen),
- sensorisches Diskriminationstraining (spezielles Training, um Sinnesreize unterscheiden zu lernen),
- Vorstellungstraining (Training, um sich Bewegungen vorstellen zu können, ohne diese auszuführen) und
- Imaginationstraining (Training, um bei wachem Bewusstsein innere, mentale Bilder wahrnehmen zu lernen.)
Naturheilkundliche Therapien:
Für die Behandlung von Phantomschmerzen existiert keine Behandlungsform, die dem Goldstandard entspricht. Hier gilt es eine individuelle Kombination aus verschiedenen Therapieformen zu wählen.
Diese Therapieformen werden am besten im Lauf der Behandlung immer wieder angepasst. Der Phantomschmerz ist ein umfassendes und nicht gleich zu behandelndes Phänomen. Die davon Betroffenen sollten am besten in einer dafür speziell ausgerichteten Einrichtung behandelt werden.(sw)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Ovadia, D.: Heilsamer Spiegeltrick, In: SpektrumMagazin, 2019, Spektrum
- Kuhnert, J.: Deafferenzierungsschmerz - Was ist das? In: Untersuchung zu therapeutischen Effekten der repetitiven transkraniellen magnetischen Kortexstimulation bei Patienten mit Deafferenzierungsschmerzen, 2007, S. 10, FU Berlin
- Scherber, L.: Phantomschmerz: Schmerz-Abgrenzung im Vorfeld. In: Österreichische Ärztezeitung, 2019, Nr. 21, Ärztezeitung.at
- Diers, M.; Flor, H.: Phantomschmerz, psychologische Behandlungsstrategien. In: Der Schmerz, 2013, Ausg. 27, S.205–213, SpringerLink
- Flor, H.; Andoh, J.: Ursache der Phantomschmerzen: Eine dynamische Netzwerkperspektive. In: Neuroforum, 2017, Band 23, Heft 3, S. 149–156, De Gruyter
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.